Die Maori-Prinzessin
Ein Blick auf ihr frisch geschnittenes blutverklebtes Haar, in dessen Mitte ein Loch klaffte, ließ Eva erschaudern.
Wieder stöhnte Joanne laut auf und wieder rief sie nach ihren Kindern. Evas Herz klopfte bis zum Hals. Sie musste endlich etwas Tröstendes sagen und konnte nur hoffen, dass Tante Joanne ihre Stimme nicht erkannte. Das würde sie mit Sicherheit viel zu sehr aufregen.
»Ihre Kinder sind in Sicherheit«, sagte Eva leise. Wie durch ein Wunder brachte sie Tante Joanne damit zum Schweigen. Oder sie ist tot, durchfuhr es Eva eiskalt. Doch plötzlich riss Joanne die Augen auf. Ein Ausdruck von Panik lag über ihrem Gesicht. Eva befürchtete, sie wäre der Grund, aber dann folgte ein markerschütternder Schrei aus dem Mund Tante Joannes.
»Ruhig, ruhig«, flüsterte Eva und strich ihr weiter über die Stirn.
»Ich kann nichts mehr sehen«, brüllte Joanne. »Ich kann nichts mehr sehen, ich kann nichts mehr sehen, aber deine Stimme, ich kenne deine Stimme. Eva?«
Eva zuckte zusammen.
»Ja, ich bin bei dir. Es wird alles wieder gut«, stieß Eva mit bebender Stimme hervor.
»Wo ist Adrian? Wo ist Berenice?«, schrie Tante Joanne.
»Ihnen ist nichts geschehen. Du wirst sehen. Zum Abendessen sitzen wir alle gemeinsam am Tisch. Adrian, Berenice, du und …«
»Du sollst nicht lügen, Eva Schindler«, krächzte Tante Joanne. Ihre Stimme wurde schwächer. »Ich werde sterben. Jawohl! Und ich war nicht immer nett zu dir, aber ich möchte, dass du mir im Angesicht des Todes verzeihst.«
Eva kämpfte mit sich, ob sie die Tante nicht unterbrechen und fortfahren sollte, der Sterbenden Märchen zu erzählen, als Joanne sich aufzubäumen versuchte.
»Bitte, sag meiner Mutter, dass sie mir verzeihen möge. Bitte, du musst es ihr sagen. Es war nicht richtig, was ich getan habe. Sie hatte doch nichts Schlimmes im Sinn! Aber ich, ich … sie hatte recht. Ich war schuld … damals auf dem …, nur … ich wollte es nicht …« Ihr Kopf sackte auf die Seite.
Eva spürte, wie ihr Tränen in Strömen die Wangen hinunterrannen. Sie hatte Tante Joanne, die, ohne es zu wissen, inzwischen ihre Schwiegermutter geworden war, nicht besonders gemocht, aber so ein Ende würde sie ihrem ärgsten Feind nicht wünschen. Außerdem war sie Adrians Mutter … Adrian. Der Gedanke durchfuhr sie wie ein Messerstich. Wo war er? Ging es ihm gut? Sie musste ihn suchen, sobald sie ihre Pflicht getan hatte.
»Kommen Sie! Wir müssen weiter«, hörte sie den Arzt sagen. »Den Toten ist nicht mehr zu helfen.«
»Sie ist meine Schwiegermutter. Darf ich wenigstens ein Tuch über ihr Gesicht decken?«, fragte Eva und wischte sich hastig die Tränen aus den Augen.
Der Arzt sah sie fassungslos an. »Mädchen, das hätten Sie mir doch sagen müssen! Schnell, gehen Sie an den Strand zu den anderen. Ruhen Sie sich aus. Ich kann Sie nicht mehr gebrauchen. Sie stehen ja unter Schock!«
»Nein, ich möchte Ihnen helfen!«, widersprach Eva heftig, doch als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie kam ins Wanken. Der Arzt konnte sie gerade noch festhalten.
»Das ist ein ärztlicher Befehl. Und Sie gehen nicht allein. Ihre Freundin soll Sie begleiten.« Er rief nach Hariata und befahl ihr, Eva an den Strand in Sicherheit zu bringen.
Sie hakte die totenbleiche Eva unter und zog sie fort. Die beiden Frauen sprachen kein Wort. Jede für sich war mit dem Unfassbaren beschäftigt, das sie eben erlebt hatte. Doch plötzlich, als sie unten am Meer angekommen waren und schon die vielen Menschen sehen konnten, die verloren im Sand hockten, riss sich Eva los.
»Ich setz mich nicht an den Strand, wenn ich nicht weiß, wo mein Mann ist«, sagte sie voller Empörung. »Ich muss sofort zur Technikerschule!«
»Gut, ich komme mit, aber lass uns erst zum botanischen Garten gehen. Dort sollen die meisten Überlebenden aus der Innenstadt sein. Ich will schauen, ob meine Familie vielleicht dort ist.«
Eva war damit einverstanden, wenngleich sie am liebsten sofort zur Technikerschule gerannt wäre, doch der Gedanke, allein in diesem Inferno zu sein, behagte ihr ganz und gar nicht.
Der sonst so friedliche Park bot ihnen ein gespenstisches Bild. Es wimmelte vor verwundeten Menschen, deren Kleidung schmutzig und zerrissen war. Zum ersten Mal, seit Eva von den Trümmern getroffen worden war, sah sie an sich hinunter. Auch ihr Sommerkleid war völlig zerfetzt, die Strümpfe verdreckt und die Schuhe kaputt. Mit einem Griff an ihren Kopf stellte Eva fest, dass
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