Die Maori-Prinzessin
fragte sich immer häufiger, was sie getan hätte, wenn sie gewusst hätte, dass dies erst der Anfang gewesen war.
Auch an diesem warmen Sommertag saß sie, wie so oft, versonnen in dem Schaukelstuhl auf der Veranda und grübelte über ihr Unglück nach. Der kleine Tommy war bei Tante Ha, wie er Harakeke nannte, und Lucie nutzte die Gelegenheit, unbeobachtet ihren traurigen Gedanken nachzuhängen. Fünf weitere Kinder hatte sie inzwischen verloren. Die ersten waren noch nach Maorisitte begraben worden, um die Ahnen zu besänftigen, die letzten auf dem katholischen Friedhof, um Toms Gott um Gnade zu bitten.
Zur Erinnerung an jedes Kind hatte Lucie einen kleinen Sarg gebastelt, in den sie ein Haar von ihm hineingelegt hatte. Die sechs kleinen Särge hatten bis vor Kurzem wie Mahnmale in ihrem Schlafzimmer gestanden. Bis Tom sie im Rausch allesamt hinausgeworfen hatte. In letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass Tom dem Alkohol zusprach. Er wurde nie laut oder beleidigend, sondern wurde nur noch verschlossener, als er es in diesen letzten Jahren ohnehin geworden war. Lucie und er hatten sich nicht mehr viel zu sagen. So hatte sie auch nicht geklagt, als sie die kleinen Särge eines Morgens im feuchten Gras des Gartens gefunden hatte. Still leidend hatte sie die Holzkisten in den Wirtschaftsraum getragen.
Seit ihr letzter Junge im September tot zur Welt gekommen war, war Lucie schwermütig geworden. Nur der kleine Tommy konnte sie aufheitern und ihr jene Freude bereiten, die sie am Leben hielt. Sonst wäre sie manchmal lieber irgendwo zwischen John, Louise und dem letzten Kind, dem ohne Namen. Es herrschte völlige Sprachlosigkeit zwischen den Eheleuten. Lucie glaubte, aus Toms gleichgültigem Verhalten ihr gegenüber schließen zu können, dass er es bedauerte, eine Maori geheiratet zu haben.
Die feurigen Blicke, die er mit der Köchin Elisa austauschte, bestärkten sie in dieser Ansicht. Lucie hatte sie vor zwei Jahren eingestellt, um Mary zu entlasten. Leisten konnten sie sich diesen Luxus inzwischen, denn das Weingut warf einen satten Gewinn ab.
Die Köchin riss sich jedes Mal förmlich danach, zur Ernte in Meeanee zu helfen. Wohl war Lucie der Gedanke schon beim ersten Mal nicht gewesen, dass Tom über Wochen allein mit der jungen Frau in dem neuen Anwesen wohnte. Es war nämlich nach Margrets Tod sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, ein neues Haus zu errichten. Doch es war mehr geworden als das: ein spektakuläres Herrenhaus mit verschiedenen Nebengebäuden. Tom hatte davon geträumt, dass sie mit ihrer Kinderschar dort wohnen würden. Nun war alles anders. Lucie lebte mit dem kleinen Tom in Napier und ihr Mann, der große Tom, hielt sich die meiste Zeit in Meeanee auf. Elisa wohnte seit nunmehr sechs Monaten ebenfalls in Meeanee. Lucie hatte sie deshalb fast ein halbes Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Man hatte sie, die Hausherrin, nicht einmal gefragt, ob sie so lange auf ihre Köchin verzichten könnte. Diese Entscheidung hatte Tom einfach über ihren Kopf hinweg getroffen. Lucie war zu erschöpft gewesen, um dagegen zu protestieren. Außerdem war sie nicht dumm. Sie ahnte, was dahintersteckte. Das pfiffen ja bereits die Spatzen von den Dächern. Es kränkte sie zutiefst, auch wenn sie es sich niemals würde anmerken lassen.
Wäre es anders geworden, wenn ich mich auf dem Weingut weiterhin unentbehrlich gemacht hätte? Wenn ich mich nicht so hätte gehen lassen? Diese Frage stellte sich Lucie immer und immer wieder. Nun war sie schon seit weit über einem Jahr gar nicht mehr in Meeanee gewesen. Sie war durch die Geburten immer dicker geworden und litt ständig unter Rückenschmerzen. So war sie für die Weinernte untauglich geworden, und es lag ihr auch nicht, für die Helfer ihres Mannes auf dem Weingut zu kochen. Sie hätte sich dort überflüssig gefühlt und zog es vor, sich im Haus in Napier vor der Welt abzuschotten. Ein schwerer Fehler, wie sie insgeheim zugeben musste. Manchmal wünschte sie sich, ihre Trägheit und düsteren Stimmungen zu vertreiben, abzunehmen und sich in der Gesellschaft nützlich zu machen. Es gab zwar einzelne Tage, an denen sie sich stark genug fühlte, ihre Probleme anzugehen, aber ihre Antriebsarmut lähmte sie immer wieder aufs Neue.
Auch ihre Schwester Harakeke lag ihr ständig in den Ohren, sie müsse wieder mehr an sich selbst denken, nur wie sollte sie das bewerkstelligen? Lucie war ja froh, dass sie den Alltag und besonders die Erziehung ihres Sohnes
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