Die Maori-Prinzessin
Kuss auf die Wange. Dann verließ sie das Zimmer, ohne die Hebamme nur noch eines Blickes zu würdigen.
Miss Benson blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen. Entgeistert blieb ihr Blick an Lucie hängen, deren Haar nass war und deren weißes Nachthemd vor Dreck starrte.
»Ich werde Sie erst einmal sauber machen und … wo ist das Kind? Ich erledige die Formalitäten!«
»Nicht nötig, darum kümmert sich meine Schwester.«
»Schwester?«, wiederholte die Hebamme entgeistert.
Jetzt erst bemerkte Lucie ihren Fehler. Tom hatte sie gebeten, der Tratschtante Misses Benson die verwandtschaftlichen Verhältnisse zu Misses Dorson zu verschweigen.
»Und was mich angeht, ich möchte jetzt allein sein«, brummte Lucie.
Die Hebamme guckte immer noch ziemlich irritiert, doch Lucie machte eine eindeutige Handbewegung in Richtung Tür. Kopfschüttelnd verschwand Miss Benson.
Lucie kletterte vom Bett und schleppte sich zum Waschkrug. Dort säuberte sie sich von dem Dreck und dem Blut, das noch von der Geburt an ihr klebte, zog sich ein frisches Nachthemd an, wechselte die Bettwäsche und legte sich zurück in ihr Bett.
Sie hatte sich kaum hingelegt, da war sie bereits eingeschlafen. Sie wachte auf, als ihr der Vater das Kind aus der Wiege stehlen wollte. »Nein!«, schrie sie. »Vater, nein!«
Erst als eine kleine Hand ihre Wange berührte, kam sie zur Ruhe, öffnete die Augen und sah in das besorgte Gesicht ihres Sohnes.
»Mein Liebling«, hauchte sie. »Mein kleiner Liebling, alles gut!«
Tommy reichte ihr unbeholfen einen selbstgepflückten Blumenstrauß: »Für Mama!«, sagte er.
Lucie nahm sie gerührt entgegen. Nun nahm sie auch Tom wahr, der sich im Hintergrund gehalten hatte. Ihm war anzusehen, dass er sehr beunruhigt war.
»Wo ist das Kind?«, fragte er leise.
»Harakeke kümmert sich darum, dass unser kleiner Engel seine Ruhe nach den Stammesritualen unserer Leute findet.«
»Aber, das geht nicht. Miss Benson hat schon nach Bruder Pierre geschickt …«
»Tom, bitte! Sprich mit ihm. Es geht nicht anders. Glaube mir. Es hat seine Gründe.«
Tom kämpfte mit sich, doch dann straffte er die Schultern und murmelte: »Ich werde es ihm sagen. Aber trotzdem, ich verstehe nicht …«
Lucie legte einen Finger auf ihren Mund, um ihm zu signalisieren, dass er schweigen möge.
»Ich muss meine Ahnen besänftigen, weil ich eine Pakeha geworden bin. Bitte, iass Ihnen Margret. Wir werden noch viele gesunde Kinder bekommen.«
»Gut … ich, ja, ich denke …«
In diesem Augenblick trat, ohne anzuklopfen, Harakeke ins Zimmer. Sie sah aus wie ein streunender Hund. Das nasse Haar fiel ihr wirr ins Gesicht, und ihre Kleidung starrte vor Dreck. Als sie Toms Anwesenheit bemerkte, blieb sie wie versteinert stehen.
»Es ist alles gut!« Lucie suchte dabei erst Toms Blick und dann den der Schwester.
»Ja, es ist alles gut«, brummte Tom wie aufgezogen, bevor er sich mit seinem Sohn an der Hand an der Maori vorbeidrückte und aus dem Zimmer eilte.
»Er versteht es nicht, oder?«, fragte Harakeke.
Lucie schüttelte heftig den Kopf. »Er duldet es mir zuliebe. Aber ich hatte keine andere Chance, nicht wahr? Sage mir, dass Vaters Fluch damit seine Wirkung verloren hat! Bitte!« Das klang verzweifelt, so als würde Lucie selber nicht daran glauben, dass alles so einfach wäre.
»Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Es ist vorbei«, murmelte Harakeke, während sie sich zu Lucie ans Bett setzte und ihre Hand streichelte. In Wahrheit teilte sie die Besorgnis ihrer Schwester, denn wenn es wirklich den Fluch ihres Vaters gab, dann würden sich die Ahnen nicht von dem Begräbnis des toten Mädchens nach Maori-Sitte beschwichtigen lassen. Dann half nur, sie anzurufen und um Lucies Wohl und das ihrer Kinder zu bitten. Und das war nicht so einfach; ahnte Harakeke doch in tiefstem Herzen, dass die Schwester ihr etwas verschwieg, schlimmer noch, dass sie sie belogen hatte! Denn eines wollte ihr partout nicht einleuchten. Wenn ihr Vater wirklich gewusst hätte, wo sich seine Prinzessin befand, er wäre persönlich bei ihr aufgetaucht und hätte sie notfalls mit Gewalt nach Hause geholt. Niemals hätte er Hehu geschickt. Nein, Harakeke war sicher, dass etwas an der Geschichte nicht stimmen konnte, aber sie wusste nicht was. Und es war nicht der richtige Zeitpunkt, ihre arme Schwester mit skeptischen Fragen zu traktieren.
N APIER , N OVEMBER 1885
Neun Jahre waren inzwischen seit dem Tod der kleinen Margret vergangen und Lucie
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