Die Maori-Prinzessin
Lucie keinen erneuten Schock erleiden würde.
Lucie aber erstarrte, als sie begriff, dass sie ein lebloses Kind im Arm hielt. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie streichelte ihrer Tochter über die Wangen. Nach einer halben Ewigkeit hob sie den Kopf und suchte Harakekes Blick.
»Was meinst du, wollen wir sie nach Stammessitte beerdigen?«
Harakeke erschrak. »Muss sie nicht von einem katholischen Pfarrer begraben werden?«
Lucie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ich möchte, dass sie in unserem Garten liegt.«
»Aber sollten wir nicht auf Tom warten?«
»Nein, wir müssen es tun, um die Ahnen zu besänftigen. Vater hat meine Kinder verflucht, bevor …«
»Vater? Hast du ihn denn jemals wiedergesehen?«
Lucie begann schwer zu atmen. »Nein, ich … ja … ich, meine …« Sie stockte. Wäre das nicht der geeignete Augenblick, ihrer Schwester die Wahrheit zu sagen?
Harakeke aber schien in ihren Gedanken gerade in eine andere Welt abzuschweifen. Ihr Blick hatte etwas Schwärmerisches bekommen.
»Ach, weißt du? Manchmal muss ich an Vater denken. Obwohl er mir das Heilen verboten hat, denke ich oft daran, was für ein starker Mann er war. Und dann gibt es Nächte, in denen ich mich in unser Dorf zurücksehne und …«
»Nein, ich habe ihn nicht wiedergesehen«, unterbrach Lucie sie schroff. Wie gut, dass ich ihr nicht mein Herz ausgeschüttet habe, wer weiß, wie sie reagiert hätte, dachte sie, während sie aus dem Bett kletterte, im Arm ihr Kind.
»Aber woher weißt du, dass er deine Kinder verflucht hat?«, hakte Harakeke nach. Sie weiß, dass ich etwas zu verbergen habe, durchfuhr es Lucie eiskalt, und sie suchte händeringend nach einer Erklärung.
»Ich, ich weiß es von Hehu!«, versuchte sie schließlich möglichst glaubhaft zu versichern.
»Den hast du also noch einmal getroffen? Dann weiß er also, wo du bist? Und Vater hat dich bis heute nicht aufgesucht, um dich mit Gewalt nach Hause zu holen?«
»Hehu hat mir geschworen, dass er meinen Aufenthaltsort für sich behält! So, und jetzt möchte ich, dass wir mein Kind beerdigen und uns nicht über solch einen Unsinn streiten.«
Obwohl Harakeke schwieg, entging es Lucie nicht, dass ihrer Schwester noch eine Entgegnung auf der Zunge lag. Lucie war es recht, dass Harakeke es vorzog, den Mund zu halten, denn sie wusste nicht, wie lange sie es noch durchhalten würde, ihre Schwester zu belügen.
Lucie eilte voraus in den Garten und deutete auf einen Platz unter dem Pohutukawa, dem roten Eisenbaum, der im Dezember rot erblühen würde. Noch war seine Pracht nur zu erahnen.
»Dort soll sie liegen!«
»Aber wir können sie doch nicht einfach in der Erde verscharren«, gab Harakeke zu bedenken.
»Im Wirtschaftsraum lagern ein paar Kisten. Und wir brauchen ein Kissen!«
Die Schwester holte, was Lucie verlangte, und brachte eine Schaufel mit. Lucie legte das tote Kind auf dem Kissen ab, nahm ihr die Schaufel aus der Hand und begann, im Schweiße ihres Angesichts ein Loch zu graben.
Harakeke versuchte, sie davon abzubringen. Sie bot sich an, diese Arbeit zu erledigen, zumal es zu regnen anfing und die Erde immer schwerer wurde. Doch Lucie grub sich in einem Zustand der Entrückung tief und immer tiefer, bis sie sich erschöpft auf den Spatenstiel stützte und japste: »Ich kann nicht mehr!«
Nun hielt Harakeke nichts mehr. »Schluss jetzt!«, sagte sie. »Ich bringe dich ins Bett, denn was du hier draußen tust, wird dich umbringen.« Energisch packte sie ihre Schwester beim Arm und stützte sie, während sie ins Haus zurückgingen.
»Aber das geht nicht, ich muss …«, stieß Lucie kläglich hervor.
»Du musst gar nichts!«, unterbrach Harakeke sie unwirsch und steuerte mit ihr auf das Schlafzimmer zu.
»Aber ich …«
»Du gehst jetzt ins Bett!«
In diesem Augenblick trat die Hebamme ein und schrie entsetzt auf. »Was tun Sie mit Misses Bold? Sie darf nicht aufstehen! Um Gottes willen, wie sieht sie denn aus? Sie war draußen!« Miss Benson streckte die Hände gen Himmel, bevor sie Harakeke wütend anfunkelte. »Das ist alles ihre Schuld! Oder sind das etwa Ihre Heilmethoden? Sie Pfuscherin, Sie!«
Sie versuchte, Harakeke zur Seite zu stoßen, was ihr nicht gelang.
»Und Sie halten jetzt sofort den Mund, Sie Tratschweib«, fauchte Harakeke und half Lucie, sich ins Bett zurückzulegen.
»Vertrau mir! Ich werde die Kleine so beerdigen, wie es unsere Ahnen verlangen«, flüsterte Harakeke Lucie ins Ohr und gab ihr einen
Weitere Kostenlose Bücher