Die Marionette
Außenseiter, der er war, bis in die Vorstandsetage schaffen würde. Diese Posten waren einem bestimmten Kreis von Bewerbern vorbehalten, zu denen er schon aufgrund seiner fehlenden familiären Verbindungen nicht gehörte. Aber er war ambitioniert gewesen. Und sein Erfolg gab ihm letztlich recht.
»Worum geht es?«, hatte sie ihn gefragt.
»Ich würde gern unter vier Augen mit dir darüber reden. Können wir uns nachher kurz treffen?«
Die Tapas-Bar war sein Vorschlag gewesen. Hatte er gewusst, wie voll es hier sein würde? Sie plazierte sich so, dass sie die Eingangstür sehen konnte, und warf einen Blick auf ihre Uhr. Milan war normalerweise extrem pünktlich. An sich hatte sie erwartet, dass er bereits da sein würde.
Nach einer Viertelstunde beschloss sie, ihn anzurufen. Zu ihrem Ärger stellte sie jedoch fest, dass sie nur seine Firmendurchwahl und seine Privatnummer, nicht aber seine Handynummer dabeihatte. Sie wählte die Firmendurchwahl, in der Hoffnung, dass er sein Telefon weitergeleitet hatte, erreichte aber nur eine Mailbox. Das erste Gefühl des Ärgers wich Besorgnis. War etwas passiert? Sie erinnerte sich plötzlich, dass Sibylle in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft war. Nach kurzem Zögern wählte Valerie Milans Privatnummer. Ebenfalls der Anrufbeantworter. Resigniert ließ sie ihr Smartphone zurück in die Tasche gleiten, bezahlte ihren Wein und verließ die Bar.
Draußen war es bereits dunkel. Es war ein milder Frühlingsabend, ein Hauch von Sommer lag in der Luft. Die Straßen in der Hamburger Innenstadt waren wie immer nach Geschäftsschluss verwaist, und das Geräusch ihrer klappernden Absätze hallte in der Stille von den Häuserwänden zurück. Die Bar lag nur wenige Gehminuten von dem Gebäude entfernt, in dem Valerie zusammen mit Kurt Meisenberg ihre Kanzlei hatte. Sie schritt schnell aus, verärgert darüber, dass Milan sie versetzt hatte. Seine Bitte um ein Treffen hatte so dringlich geklungen, dass sie sofort zugesagt hatte, obwohl sie ursprünglich etwas anderes vorgehabt hatte.
Als sie das Kanzleigebäude an der Binnenalster erreichte, nahm sie kurz entschlossen den Fahrstuhl und fuhr in den dritten Stock statt in die Tiefgarage. Um diese Uhrzeit war niemand mehr im Büro. Die Räume lagen dunkel und verlassen, und so wäre sie fast über das gepolsterte Kuvert gestolpert, das gleich hinter der Empfangstür auf dem Fußboden lag. Jemand musste es nach Büroschluss durch den Briefschlitz geworfen haben. Sie drückte den Lichtschalter. Es war von einem privaten Kurierdienst geliefert worden, wie sie an der aufgeklebten Banderole erkennen konnte. Ein Absender war nicht darauf. Und es war an sie adressiert. Sie nahm den Umschlag mit in ihr Büro, legte ihn auf ihren Schreibtisch und sah zunächst flüchtig die Post durch, die ihre Assistentin dort für sie bereits vorsortiert abgelegt hatte. Es war nichts dabei, was ihre sofortige Aufmerksamkeit erforderte, deshalb nahm sie den Umschlag auf und wog ihn in ihrer Hand. Als sie ihn öffnete, fiel ihr ein USB -Stick und eine kurze, handgeschriebene Mitteilung entgegen.
Bitte verwahre den Stick für mich vorübergehend. Danke, Milan.
Sie starrte nachdenklich auf die, wie es schien, in Hast geschriebenen Worte und wog den Stick in ihrer Hand. Dann blätterte sie in ihrem Telefonverzeichnis und tippte Milans Handynummer in ihr Bürotelefon. Doch auch hier erreichte sie nur die Mailbox.
In ihrem Kopf wirbelten die Eindrücke dieses seltsamen Tages durcheinander. Von Meisenbergs Anruf am Morgen über die unerwartete Begegnung mit Eric Mayer bis zu Milans Nichterscheinen und der Kuriersendung. Sie hatte den Tresor schon geöffnet, den Meisenberg eigens für besonders sensible Mandantenunterlagen angeschafft hatte, nachdem vor einem halben Jahr in die Kanzlei eingebrochen worden war, als sie es sich doch anders überlegte und die schwere Tür wieder ins Schloss schob. Sie schaltete den Papierschredder ein und beobachtete, wie Milans Mitteilung langsam darin verschwand. Den USB -Stick ließ sie in ihre Jackentasche gleiten.
Fünf Minuten später saß sie bereits in ihrem BMW und betätigte das Tor der Tiefgarage. Zu ihrem Ärger musste sie feststellen, dass eine große dunkle Limousine die Ausfahrt versperrte. Entnervt lehnte sie den Kopf gegen die Lehne und schloss kurz die Augen, bevor sie die Tür öffnete. Im selben Moment löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Limousine und schritt eilig auf sie zu. Hastig zog sie ihre
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