Die Marionette
einen trockenen Zweig. Es war ein komplettes Sich-fallen-Lassen in den Moment, der immer der letzte sein konnte.
Ameisengleich bewegten sich die Menschen im Hof der alten Anlage, ziellos auf den ersten Blick, doch dann zeichneten sich wie bei den Insekten Wege ab, ergab sich ein Sinn. Gelassen verfolgte sie den Aufbau des Gestühls, des Podiums. Der Wagen einer Gärtnerei fuhr ans Tor, Sicherheitsbeamte stoppten ihn, überprüften den Fahrer. Er brachte die Blumen, die Kränze, frisches Grün für verwesende Körper, die dort unten in ihren Särgen, bedeckt von der schwarz-rot-goldenen Flagge, vor dem Eingang der Kapelle warteten.
Die zuständigen Sicherheitsbehörden hatten die Zeremonie aufgrund der zahlreichen Teilnehmer in den Innenhof des Klosters verlegt. Das ganze Gelände war abgeriegelt. Überall standen Fahrzeuge der Polizei, sicherten Beamte in dunklen Uniformen die Hänge rund um den sandsteinfarbenen Gebäudekomplex. Die Kanzlerin hatte ihr Kommen kurzfristig zugesagt. Katja beobachtete, wie die Blumen plaziert und die Fotos, die auf den Särgen lagen, davor aufgestellt wurden. Und sie fragte sich, was sie Chris angezogen hatten, bevor sie ihn in seinen Sarg gebettet hatten. Ob sie die Beine der Hose umgeschlagen hatten? In dem Dorf, in dem sie gelebt hatte, war einmal ein Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg zu Besuch gewesen. Er hatte im Rollstuhl gesessen, ein dicker alter Mann mit einem teigigen Gesicht, der trotz seiner Kurzatmigkeit immer eine Zigarette in der Hand gehalten hatte. Die Beine seiner Hose waren säuberlich unter die Stumpen, die er noch besaß, geschlagen gewesen, und Katja hatte sich gefragt, warum er nicht einfach kurze Hosen trug, wo doch guter Stoff, wie ihre Großmutter immer sagte, so teuer war.
Sie merkte plötzlich, dass sie durch das Zielfernrohr ihres Gewehrs auf den Sarg mit Chris’ Bild davor starrte. Sie kannte dieses Bild, wusste, wo es aufgenommen worden war. Sie war dabei gewesen. Und sie spürte, wie die Klarheit sie verließ und eine Träne sich den Weg über ihre Wange suchte. Was zum Teufel machte sie hier?
Sie ließ den Kopf auf die Arme sinken, Verzweiflung übermannte sie und löschte jeden anderen Gedanken aus. Chris war tot. Was sie auch tat, es würde ihn nicht wieder lebendig machen. In ihr öffnete sich erneut jene Tür, hinter der sich die Dunkelheit verbarg, die alles schluckte, fraß, auslöschte und nur eine leere Hülle zurückließ, die sie im Spiegel betrachten konnte, die sie anfassen und fühlen konnte, die aber nichts mehr mit der Frau zu tun hatte, die sie einmal gewesen war. Diese Frau lag dort unten mit im Sarg, vor dem jetzt das Foto eines verwegen dreinblickenden Soldaten stand, dessen Augen in der Morgensonne so blaugrün leuchteten, als spiegle sich das Meer darin.
Fahrzeuge fuhren den schmalen Weg zum Kloster hinauf, parkten auf einer eigens abgezäunten Fläche. Die Trauergäste sammelten sich im Innenhof. Funkwagen der Fernsehsender mit ihren Antennen und Satellitenschüsseln standen außerhalb der Mauern, im Inneren brachten sich die Kamerateams in Stellung, filmten das Musikkorps der Bundeswehr, graue Ausgehuniformen und weinrote Barette in Formation. Der letzte Zapfenstreich. Er war unvermeidlich. Ebenso wie der graue Stahlhelm auf dem Sarg. Katja lauschte dem klagenden Klang der Trompete, der zitternd und vom Wind verweht bis zu ihr heraufhallte. Chris hatte nie viel übrig gehabt für diese Zeremonien. Sie erinnerte sich an sein versteinertes Gesicht, als sie die letzten Gefallenen in ihren Särgen nach Deutschland verabschiedet hatten. »Ein besser gepanzertes Fahrzeug hätte ihnen mehr gebracht«, hatte er hinterher bitter zu ihr gesagt. Sein Fahrzeug war gepanzert gewesen, hatte ihn aber nicht vor den so überaus schlagkräftigen Waffen seiner Gegner beschützt. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Tatsache in Vergessenheit geriet. Sie durfte nicht schweigend zusehen.
Der Trompeter trat ins Glied zurück. Und während sie in die plötzliche Stille lauschte, kehrte die Klarheit zurück. Füllte die Leere. In aller Ruhe richtete sie das Gewehr aus. Kontrollierte ihren Atem und wartete. Sie müssen ein Ziel haben, hatten die Psychologen ihr damals gesagt, eine Perspektive.
Sie verfolgte, wie die Journalisten ihre Kameras auf einen Mann in der ersten Reihe richteten, der jetzt aufstand und gemessenen Schrittes auf das Podium stieg. Durch das Zielfernrohr konnte sie sein hageres Gesicht sehen, das graumelierte Haar, den
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