Die Marionette
ernsten Blick. Er begann zu sprechen. Trotz des Mikrofons konnte sie nicht hören, was er sagte. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war allein, dass die ganze Welt durch die auf ihn gerichteten Kameras sehen würde, was geschah. Bilder, die sich in das Gedächtnis der Nationen brennen würden. Sie konzentrierte sich auf das Fadenkreuz. Atmete aus. Sie hatte nur einen Schuss.
***
Rheinland-Pfalz, Deutschland
Gerwin Bender blickte auf das Podium. Die Müdigkeit zerrte an ihm, er hatte schlecht geschlafen, und sein Herz machte ihm nach wie vor Probleme. Die getragene Stimme des Verteidigungsministers hallte über den Innenhof des Klosters, doch Bender gelang es nicht, sich auf die Worte zu konzentrieren. Ein leichter Windstoß fuhr durch das Manuskript auf dem Pult und ließ die Blätter flattern, der Minister hob seine Hand, um sie daraufzulegen, doch er kam nicht mehr dazu. Einer seiner dunkel gekleideten Bodyguards schrie plötzlich auf, hechtete nach vorn und stieß seinen Arbeitgeber zur Seite. Der Verteidigungsminister stürzte in eins der Blumengebinde, eine Vase fiel mit lautem Scheppern vom Podium. Wasser spritzte, und jemand schrie: »Vorsicht, Scharfschütze!« Mehrere Beamte stürzten auf den Minister zu, schirmten ihn ab, ebenso wie auf die Kanzlerin, die neben Bender saß, und rannten mit beiden auf die Kapelle zu. Die anderen Anwesenden sprangen auf, riefen entsetzt durcheinander, Stühle wurden umgerissen. Bender selbst wurde von einem seiner Bodyguards am Arm gepackt. »Los, in die Kapelle«, befahl der Mann.
Bender stolperte über das Podium, vorbei an dem Sicherheitsbeamten, der den Minister zur Seite gestoßen hatte. Er lag am Boden. Aus einer Wunde in der Höhe seines Herzens pulsierte Blut. Sein Gesicht war kalkweiß, und er atmete rasselnd ein und aus, ein Laut, den Bender für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. Einer seiner Kollegen beugte sich über ihn, hielt ihn. »Wir brauchen einen Arzt!«, schrie er. »Ist hier ein Arzt?«
Niemand reagierte.
Bender wurde nach vorn gestoßen auf den dunklen Eingang der Kapelle zu. Er hörte das Weinen eines Kindes, das Schreien einer Frau. Irgendwo ging ein Alarm. Ein Mann mit einer Fernsehkamera auf der Schulter rannte an ihm vorbei. Bender taumelte weiter. In der Kapelle war es düster. Er konnte kaum etwas sehen nach dem gleißenden Licht auf dem Innenhof. Kälte strömte ihm entgegen und der Geruch von Weihrauch. Aus dem Augenwinkel bemerkte er den Verteidigungsminister, gleich neben dem Weihwasserbecken. Er war unverletzt, bis auf ein paar Schrammen, die er sich bei seinem Sturz zugezogen hatte. Einer seiner Bodyguards war bei ihm. Mit ernster Miene trat die Kanzlerin dazu. Und immer mehr Menschen strömten in die Kirche, weinend, mit weit aufgerissenen Augen.
Atemlos sank Bender auf eine der Holzbänke. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Mann aus seinem Sicherheitsteam, der ihn begleitet hatte. Hinter ihnen wurden die Kirchentüren geschlossen.
»Alles okay«, antwortete Bender, bemüht, seiner Stimme einen gelassenen Tonfall zu geben, obwohl er sich wie eine Maus in der Falle fühlte. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
Was ging draußen vor?
»Bitte, beruhigen Sie sich«, hörte er die Stimme der Kanzlerin.
Er sah auf. Sie stand vor dem Altar. »Bitte suchen Sie sich einen Platz. Setzen Sie sich. Wir sind hier in Sicherheit.«
Das Stimmengewirr wurde leiser, nur hier und da war noch ein Schluchzen zu hören.
»Vielen Dank«, sagte sie. Ihre Stimme hallte durch die Kapelle. »Wir werden so lange in der Kirche bleiben, bis die Polizei die Lage draußen geklärt hat und Entwarnung gibt. Wenn jemand von Ihnen verletzt ist, soll er bitte nach vorne kommen. Wir haben keinen Arzt, aber eine Krankenschwester unter uns. Wir werden Sie, so gut es geht, versorgen.«
Benders Atem beruhigte sich. Ebenso sein Herz. Er beobachtete, wie der Verteidigungsminister durch die Reihen ging, mit den Familienangehörigen der gefallenen Soldaten sprach. Wer mochte auf ihn geschossen haben? Aus welchem Grund? Und dann dachte Bender an den Sicherheitsbeamten, der die Kugel abgefangen hatte, hörte wieder das Rasseln seines Atems und realisierte, dass er noch nie einen Menschen hatte sterben sehen. Nicht auf diese Weise.
***
Rheinland-Pfalz, Deutschland
Sie hatte ihn verfehlt. Katja ließ das Gewehr sinken und verfolgte reglos die Panik, die im Hof des Klosters ausgebrochen war. Die Schreie der
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