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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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wurde. Mit Matkas Hilfe lernte sie Flickenteppiche herzustellen und altes Papier zu verwerten.
    In ihrem früheren Beruf hatte sie nur ans Geldverdienen gedacht und es sogar als einen Erfolg gewertet, wenn sie Kunden mehr Geld abnahm, als die Ware wert war. Sie war mit den Soldaten mitgezogen, weil sie wußte, daß sie unterwegs Wucherpreise nehmen und sich damit nach dem Krieg ein schönes Leben machen könnte. Sie hatte ihr Geld damit verdient, daß sie diejenigen am Leben erhielt, die es anderen nahmen.
    Als sie einmal von ihrem Stock einen Beutel mit Rubelstücken pflückte, kam ihr der abenteuerliche Gedanke, daß auch ihre Goldpuppe unter all dem Schutt begraben sein könnte. Wider alle Vernunft träumte sie davon, daß der Dieb ihren Inhalt nicht bemerkt hätte. Aber trotzdem brachte sie es nicht fertig, in den Müllhaufen jener Straße zu wühlen, wo der Palast stand. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an Zeiten, in denen es ihr gut gegangen war und ihre Hauptsorge darin bestanden hatte, ob Johannes Gerter ihre Liebe bemerkte oder eben nicht bemerkte. In diesen Wochen dachte sie häufiger an Matthäus als an Johannes und als ihr im März das Bücken unmöglich wurde, beschloß sie, ihre Karriere als Lumpensammlerin vorerst zu beenden.
    »Was machen wir, wenn das Kind kommt?« fragte sie Matka eines Abends. Die Beziehung zur Alten war nach wie vor wechselhaft. An den meisten Abenden gab Matka wie früher nur einsilbige Antworten, schien sie kaum zu bemerken und ansonsten als lästig zu empfinden, aber gelegentlich erlebte Juliane Stunden, in denen die Alte wie ein Buch redete und ihr wertvolle Hinweise für ihr Heft gab, das inzwischen auf zwei Bände angewachsen war. Das zweite Heft hatte sie selbst aus alten Papierresten zusammengeklebt.
    Sie schrieb immer dann, wenn die Alte mit ihrem Strickzeug schweigend am Ofen saß, denn das Bedürfnis sich mitzuteilen war übermächtig und sie hatte doch sonst nur Matka. Juliane konnte nie ein Gespräch eröffnen, denn wenn Matka keine Lust hatte, stellte sie sich einfach taub. Das gab Juliane ein Gefühl von Machtlosigkeit, und sie begriff, daß Matka sie mit ihrem Schweigen beherrschte. War dann Schweigen eine Antwort? War Schweigen Macht?
    Sie dachte an all die Greueltaten, die sie auf dem Feldzug selbst verübt, beobachtet oder von denen sie gehört hatte, an Soldaten, die hinterrücks erstochen und erschossen wurden, an Frauen und Kinder, denen Gewalt angetan wurde, an brennende Dörfer und Städte, an Brüder, die aufeinander gehetzt wurden und Menschen, die einander in den Selbstmord trieben oder sich aus Verzweiflung selbst entleibt hatten. Wenn alle, die das miterlebt hatten, darüber schwiegen, würde alles immer so weitergehen und junge Männer mit großen Augen würden von Heldentaten träumen. Ja, Schweigen war Macht, aber es diente den Mächtigen.
    Das Schweigen von Tätern und Opfern, das die Macht der Auftraggeber bestätigte, dieses Schweigen war Ohnmacht und sie beschloß nie über das, was sie getan, gesehen und verstanden hatte, zu schweigen. Sie würde es in die Welt hinausbrüllen, selbst wenn sich diese Welt so taub stellte wie die alte Matka. Es war still in der Stube, nur das Klicken der Stricknadeln war zu hören, als Matka völlig unvermittelt meinte: »Weißt du, warum von Glaube, Liebe, Hoffnung die Liebe das Größte ist?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Glaube und Hoffnung sind Luftschlösser, bewirken nichts. Nur die Liebe hat Macht, da hast du schon recht. Doch sie allein schafft es nicht, die Welt zu verändern, sie macht blind, wenn das Wissen ihr nicht seine Augen leiht. Und auch das ist noch nicht genug.«
    Juliane wagte nichts zu sagen, aus Angst, die Alte könnte wieder in Schweigen verfallen.
    »Liebe ist wie Wolle«, fuhr Matka fort und deutete mit einem knochigen Finger auf das Knäuel zu ihren Füßen, »und Strickenkönnen ist das Wissen. Aber ohne Nadeln kannst du viel Wolle und viele Strickkenntnisse haben und doch entsteht kein wollenes Hemd. Du brauchst ein Werkzeug.«
    »Ich empfinde Liebe für mein Kind und weiß um seine Ankunft«, sagte Juliane, »aber das ist auch nicht genug. Und an Stricknadeln habe ich ganz bestimmt nicht gedacht …«
    Die Alte warf den Kopf zurück und zum ersten Mal hörte Juliane sie lachen. Es war ein krächzendes, heiseres, hustenähnliches Lachen, aber es war zweifellos ein Lachen.
    »Ich helfe dir. Ich habe selbst einen Sohn geboren und vielen anderen auch auf die

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