Die Marketenderin
Welt geholfen.«
Juliane war verblüfft. Ihr war nie eingefallen, daß die alte Bäckerin verheiratet gewesen sein und Kinder gehabt haben könnte. War sie dann doch menschlich?
»Wo ist dein Sohn? Wie heißt er?« fragte sie und als Matka nicht antwortete, ärgerte sie sich über sich selber. Sie wußte doch, daß die Alte die Gespräche bestimmte! Sie beugte sich wieder über ihr Heft und überlegte, welches Werkzeug Liebe und Wissen zu einer Macht verschmelzen würde, die den Menschen das Kriegführen ein für allemal verleiden würde. Sie zermarterte sich den Kopf, um einen einzigen Satz zu finden, der Weisheit letzten Schluß.
»Friedrich«, sagte die Alte so plötzlich, daß Juliane vor Schreck das Heft fallen ließ. »Mein Sohn heißt Friedrich und er ist Seemann.«
Über ihr Strickzeug hinweg blickte sie in eine weite Ferne, als sie fortfuhr: »Ich weiß nicht, wo er jetzt ist und wann oder ob er wiederkommen wird.«
Sie stand auf, schenkte sich einen Becher Wasser ein, trank ihn in einem Zug leer und sah Juliane aus ihren kleinen harten Augen nachdenklich an.
»Sein Vater war ein russischer Seemann und kam mit seinem Schiff nach Lübeck. Meine Familie verstieß mich, als meine Schwangerschaft sichtbar wurde, und ich machte mich auf, um ihn zu suchen. Es dauerte Monate, bis ich nach Moskau kam, und da erfuhr ich, daß er mit seinem Schiff untergegangen war. Da stand ich nun, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse und hochschwanger. Dr. Müller, ein junger deutscher Arzt, half mir. Er nahm mich in sein Haus und nachdem Friedrich geboren wurde, lehrte er mich lesen und denken, dafür führte ich ihm den Haushalt und hielt in seinem Bett still. Es war ein Tauschhandel. Friedrich ließ er wie seinen eigenen Sohn erziehen. Friedrich sollte später seine Praxis übernehmen. Aber dann kam der große Streit.«
Matka stand auf und holte sich einen zweiten Becher Wasser, während Juliane darüber rätselte, wie viele deutsche Dr. Müllers es in Moskau geben könnte und ob sie Matka von ihrem Dr. Müller erzählen sollte. »Friedrich war in Moskau geboren und fühlte sich russisch. Das einzige, was er von Deutschland kannte, war die Sprache. Dr. Müller aber war stolz darauf, ein Deutscher zu sein, und wollte, daß Friedrich es auch wäre. Eines Abends erklärte mein Sohn, er sei genauso stolz darauf, Russe zu sein wie Dr. Müller auf sein Deutschtum. Er warf unserem Wohltäter vor, sich für etwas Besseres zu halten und auf die Russen wie auf ein unzivilisiertes Volk herabzuschauen. Er sagte, daß er uns wie Leibeigene halte und sich meine Lage zunutze gemacht habe, um mich auszubeuten. Dr. Müller erwiderte, daß das davon komme, wenn man Abschaum eine Ausbildung gebe und daß sich Friedrich auf der Stelle entschuldigen solle.« In einem Zug trank die alte Matka den Becher leer. Gerade, als Juliane fürchtete, daß sie ihre Geschichte abbrechen wollte, fuhr sie fort: »Mein Sohn sagte dann, daß er auf die ganze Ausbildung pfeife und warf ihm ein Papier hin. Er wolle Seemann werden wie sein Vater, habe bereits auf einem Schiff angeheuert und würde morgen nach Odessa abreisen. Dr. Müller wurde noch wütender und begann, auf meinen Sohn einzuprügeln. Friedrich war viel kleiner und schwächer als er, und da schlug ich Dr. Müller mit dem Schürhaken nieder. Ich traf ihn an der Stirn, aber er hatte einen so dicken Schädel, daß er den Schlag nicht nur überlebte, sondern sogar bei Bewußtsein blieb. Er warf uns auf der Stelle aus seinem Haus und wir haben ihn nie wieder gesehen. Du siehst also, ich weiß, wie es ist, wenn man im fremden Land schwanger ist«, schloß sie unvermittelt.
Matka hatte für diesen Abend genug geredet und auch in den kommenden Monaten sprach sie nie wieder über ihre Vergangenheit oder ihren Sohn.
Julianes Sohn Jakob wurde in einer schwülen Nacht Anfang Juni geboren und als Matka ihn Juliane an die Brust legte, sah er aus wie ein winziger alter Mann, der schon viel erlebt hat.
»Werde jung, Jakob«, flüsterte sie ihm zu, bevor sie vor Erschöpfung wieder einschlief.
Als sie aufwachte, sah sie sich ihren Sohn an und konnte es gar nicht fassen, daß er jetzt für immer zu ihr gehören würde. Sie setzte die Gespräche fort, die sie schon mit dem Ungeborenen geführt hatte und ließ ihr Heft in Matkas Wandnische unberührt. Wenn ihr Blick darauffiel und sie an die Aufgabe dachte, die sie sich selbst gestellt hatte, erschien sie ihr unwichtig neben der Sorge um ihr Kind. Wie schwer es doch
Weitere Kostenlose Bücher