Die Marketenderin
der achthundert, größtenteils an der Ruhr leidenden Kranken auf dünnen, schmutzigen Strohsäcken, durch die sie die Kälte des Steinbodens in die Glieder aufsteigen fühlten. Aber wenigstens hatten sie ein einigermaßen dichtes Dach über dem Kopf.
Zweihundert Schwerkranke waren bereits in das Armeehospital in Wilna überführt worden, aber nur die Hälfte hatte es lebend erreicht.
Als Juliane Anfang Juli mit Gerter in das Feldspital gekommen war, mußte sich der Oberleutnant mit einer Darmerkrankung selbst ins Bett legen.
Juliane krempelte die Ärmel auf und machte sich sogleich daran, die Kranken, so gut es eben ging, zu versorgen. Neben Spitalarzt von Ölhafen kümmerte sich auch Regimentsarzt Hans Schad um die Kranken. Er kam ebenfalls aus Weiler zum Stein, war über mehrere Ecken mit Matthäus verwandt und freute sich über Julianes tatkräftige Unterstützung.
»Du bist besser als jede Krankenschwester aus der Stadt«, lobte Schad Juliane, als sie Gerter gerade eine Schleimsuppe einflößte. Ein wenig beschämt fragte sie sich, ob sie auch in Maliaty helfen würde, wenn er nicht krank geworden wäre, und sie vermied es, Schad anzusehen.
»Ich kenn mich doch nur ein bißchen mit Kräutern aus«, erwiderte sie verlegen.
»Nicht nur das, du hast keine Angst, die Kranken zu berühren, du fällst beim Anblick von Blut nicht in Ohnmacht und du weißt instinktiv, was den Leuten fehlt …«
»Essen!« unterbrach sie und verdrängte den Gedanken, daß sie bestimmt keine Angst hatte, Gerter zu berühren. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, mußte sich zwingen, ihn nicht zu streicheln und redete hastig weiter: »Wie sollen wir die Menschen gesund kriegen, wenn sie nicht zu Kräften kommen können? Die paar Kräuter, die ich mitgebracht habe, werden auch bald aufgebraucht sein.«
Sie verriet dem Arzt, was sie eigentlich nicht hatte preisgeben wollen, daß sie noch über etwas ›Potion cordial‹ verfügte, eine Tinktur aus Pomeranzenschalen, die mit Zucker und Rotwein versetzt wurde und gegen Lazarettfieber half.
»Und was machen wir gegen Lungenentzündungen, Schwindsucht, Leber- und Darmentzündungen, gegen Durchfall, Ruhr und Gallenfieber?« murmelte Hans Schad verzweifelt.
Es überraschte Juliane nicht, daß so viele ehemals kräftige Soldaten durch die Not der Umstände dahingerafft wurden, aber sie staunte, als sie in einer Ecke des Spitals verwundete Männer antraf.
»Die ersten mit Feindberührung«, klärte Matthäus sie am Abend auf.
»Aber es hat doch noch gar kein Gefecht gegeben«, wunderte sie sich.
Sie erfuhr, daß die Männer kleinen Trupps angehörten, die zur Nahrungssuche auf Streifzüge in die Umgebung geschickt worden waren.
»Überall lauern die Kosaken«, berichtete Matthäus. »Wir können von Glück sagen, wenn von zehn losgeschickten Soldaten drei zurückkommen, von denen einer nicht verwundet ist. ›George‹ Mössner war übrigens einer von denen, die heil zurückgekommen sind.«
»Unser großer Held!« bemerkte Juliane bitter.
»Dafür hat er wieder mal eine Auszeichnung gekriegt. Er kam mit zwei kompletten Kosakenuniformen zurück. Ein Volltreffer, wie er stolz erklärte. Beide Uniformen hatten übrigens ein Loch im Rücken. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er, daß er die Kameraden hätte schützen müssen, auf die die Russen zugestürmt waren. Aber seltsamerweise hat kein anderer von den Unsrigen das Gefecht überlebt. Was sagt dir das, Zimtkäferle?«
»Daß er die anderen vorgeschickt, sich selbst bedeckt gehalten und nach dem Gefecht aus dem Hinterhalt die Kosaken gemeuchelt hat.«
»Das denke ich auch.«
»Am liebsten würde ich mir den Georg schnappen, ihn vor Napoleon hinstellen und dem großen Kaiser zeigen, was er aus Menschen macht!« schimpfte Juliane.
»Es muß halt immer irgendwie in ihm dringesteckt haben«, meinte Matthäus hilflos.
»Nix hat in ihm dringesteckt. Es ist reingesteckt worden. Von dem Herrn aus Paris, dem Korsiker, und seinen Komplizen. Wäre Mössner auf seinem Hof geblieben, wäre er ein braves Bäuerlein geworden. Dieser Feldzug hat ihn zum Ungeheuer gemacht. Und wahrscheinlich nicht nur ihn.«
»Korse«, murmelte Matthäus.
Für die Verwundeten und Verstümmelten bestand kaum mehr Hoffnung, da sich bei den meisten sehr schnell Wundfieber einstellte, woraus sich kalter und warmer Brand entwickelte. Aus den Geschwüren krochen Würmer, der Gestank von verfaultem Fleisch setzte sich in den Mauern der Gebäude fest und
Weitere Kostenlose Bücher