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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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gnädiger Gott hat sie Jakob vergessen lassen, dachte Johannes. Er wird ihr wieder einfallen, wenn sie Zeit und Kraft zum Trauern hat. Nichts auf der Welt hätte ihn bewegen können, sie aufzuklären, und er hoffte nur, daß es auch niemand anders tun würde.
    »Deine Puppe hast du – warum schleppst du die eigentlich dauernd mit dir rum? Und Matthäus liegt faul in deinem Wagen«, sagte er daher nur und kniff ein Auge zu: »Ich glaube schon, daß er gehen könnte, wenn er wollte, aber er sagt sich wohl, lieber schlecht gefahren als gut gelaufen.«
    »Jemand mit sechs Zehen könnte auch nicht gut laufen«, sagte sie plötzlich und so unvermittelt, daß Johannes sie scharf anblickte. Sie war doch nicht etwa verrückt geworden? Viele Soldaten hatten in den letzten Wochen vor Erschöpfung den Verstand verloren und er hatte selbst gesehen, wie sich ein Major seelenruhig und mit voller Wucht den Säbel in den Leib gerammt hatte. Dr. Roos hatte zwar gemeint, daß Juliane wieder alle Sinne beieinander hätte, aber vielleicht hatte er sich geirrt?
    »Schau mich nicht so an, das gibt's wirklich«, sagte sie. »Sogar unter württembergischen Offizieren, wie ich gehört habe.«
    »Wen denn?«
    Sie zuckte mit den Achseln. »Find's doch selber heraus!«
    Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, Matthäus oder Johannes auf die Spur zu setzen? Warum war es ihr plötzlich ungeheuer wichtig, ihren Vater zu finden? Ich brauche jemanden, der mir dies alles hier erklären kann, dachte sie, jemanden, der schon älter ist, der viel erlebt hat, jemanden, an den ich mich einfach anlehnen kann und der mir sagt, daß alles doch nicht so schlimm ist.
    Daß Matthäus sie unter Lebensgefahr aus der Schußlinie gezogen hatte, wußte sie inzwischen, und wenn sie daran dachte, war sie ihm gegenüber zwar voller Dankbarkeit, aber in einem kleinen Winkel ihres Herzens keimte Groll. Warum hatte er sein Leben für eine Frau aufs Spiel gesetzt, die es ihm nicht mit Liebe danken konnte? Ihre Mutter hatte sich geirrt, Liebe kam nicht mit der Ehe, sie kam nicht von selber. Das mindeste, was sie für Matthäus tun konnte, war jetzt, gut für ihn zu sorgen und ihm glaubhaft vorzuspiegeln, daß sie ihn liebte.
    Sie hatte von Schauspielern gehört, die so in ihren Rollen aufgingen, daß sie diese nicht mehr von ihrem wirklichen Sein trennen konnten. Obwohl es ihr widerstrebte, sich anders zu geben, als sie war, und sie auch zweifelte, ob sie das überhaupt könnte, schwor sie sich, Matthäus in Zukunft mit all jenen Zärtlichkeiten zu überhäufen, die man von einer liebenden Frau erwartete. Sollte er sich über ihre plötzliche Anschmiegsamkeit wundern, würde sie ihm erklären, daß die Angst um sein Leben ihr klargemacht hatte, wieviel er ihr bedeutete.
    Geh weg!, sagte sie zu dem Gesicht der alten Selma, das auf einmal vor ihr auftauchte. Du siehst, mein Mann lebt und wird am Leben bleiben und Gott sei Dank bin ich nicht schuld an seinem Tod. Obwohl nicht viel gefehlt hätte. Ja, du kannst wahrscheinlich in die Zukunft sehen, aber eben nicht sehr genau.
    Die Soldaten, die gehofft hatten, daß ihnen nach der Schlacht um Smolensk eine Atempause vergönnt sein würde, wurden enttäuscht. Nach nur wenigen Marschstunden sahen sie sich beim Dorf Volontina auf dem sogenannten Heiligen Feld plötzlich der Nachhut des Feindes gegenüber.
    Während Juliane auf einer Anhöhe zurückgeblieben war und sich im Inneren des Wagens um ihren Mann kümmerte, lieferten sich die Gegner die bisher grausamste Feldschlacht, an deren Ende 12.000 Tote und Verstümmelte von beiden Seiten das blutgetränkte Feld übersäten.
    Johannes Gerter hatte nahe Marschall Ney im dichtesten Schlachtengetümmel gekämpft, und als weit nach Mitternacht die Kanonaden allmählich verstummten, brach er halb verdurstet und völlig erschöpft auf dem Feld zusammen. Er konnte gerade noch den Tornister des toten Russen neben sich ergreifen und ihn sich unter den Kopf legen, bevor er inmitten der vielen Toten und Sterbenden augenblicklich einschlief.
    Als ihn die aufgehende Morgensonne weckte, schweifte sein Blick über die endlosen Reihen der Gefallenen. Freund und Feind, die sich bis in die Tiefe der Nacht erbitterte Gefechte geliefert hatten, lagen nun friedlich Seite an Seite, und nicht zum ersten Mal beschlich den Oberleutnant das Gefühl, daß sie alle Opfer einer wahnsinnigen Mission waren.
    »Da ward ein Angriff und ein Widerstand, wie ihn kein sterblich Auge noch geseh'n«, murmelte

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