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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Boden stürzte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Er konzentrierte sich ganz auf das Gefühl, als ob er damit das Leid seiner Frau ungeschehen machen könnte.
    Juliane warf sich neben Matthäus nieder, grub die Hände tief in die Erde, riß büschelweise vertrocknetes Gras heraus und warf die Dreckklumpen gegen den Marketenderwagen.
    Matthäus richtete sich vorsichtig auf, hatte plötzlich Angst, seine Frau würde wieder aufs Schlachtfeld laufen, um im Wahn Napoleon eigenhändig erdrosseln zu können.
    Matthäus sah Johannes Gerter erst am nächsten Morgen wieder. Mit hohlen Wangen, schwarzen Ringen unter den Augen und einem Verband am linken Arm glitt der Oberleutnant neben dem Marketenderwagen vom Pferd.
    »Wo ist die Assenheimerin?« fragte er und hockte sich zu Matthäus hin, der, mit gesenktem Haupt an ein Rad des Wagens gelehnt, auf dem Boden saß.
    »Sie schläft. Hat die ganze Nacht getobt. Wegen Jakob.«
    »Du hast ihr doch nicht etwa …«
    Matthäus warf ihm einen solch vernichtenden Blick zu, daß Johannes erschrocken stammelte: »Natürlich nicht! Es ist ihr sicher plötzlich eingefallen. Vielleicht war es der Kanonendonner.«
    »Vielleicht.«
    »Und jetzt? Was macht sie jetzt?«
    »Ich sage ja, sie schläft. Und ich bete, daß sie beim Aufwachen wieder alles vergessen hat.«
    »Du sprichst von Zeiten, die vergangen sind«, antwortete Gerter düster.
    »Was ist mit deinem Arm?«
    »Nur ein Streifschuß.« Er reichte Matthäus ein kleines abgegriffenes Heft. »Lies.«
    Fragend sah ihn der Korporal an.
    »Du weißt doch, daß ich ein Tagebuch führe, alles aufschreibe, was passiert. 160.000 Verbündete gegen 130.000 Russen. Wir haben die Schlacht gewonnen, aber zu welchem Preis!«
    Matthäus nahm das Heft, entzifferte mühsam die winzige Schrift des Oberleutnants und las stockend vor: »Es bot sich mir das gräßlichste Schauspiel, das menschliche Augen je gesehen haben. Diese zwei großen Heere hatten auf einem verhältnismäßig engen Raum, von anderthalb Stunden Länge und einer Stunde Tiefe, gefochten. In dieser Ausdehnung war die Erde mit Toten und Sterbenden bedeckt. An manchen Stellen lagen die Leichname der Menschen und Pferde gehäuft aufeinander. Trümmer von Waffen, Helmen, Kürassen, Kugeln aller Art und Größe lagen, so dicht wie Schloßen nach einem Hagelwetter, umher. Den empörendsten Anblick boten die Hohlwege und Vertiefungen und die Schlucht, durch die der kleine Bach Kalockta sich schlängelt; denn hierher hatten sich Schwerverwundete, von natürlichem Instinkt getrieben, mühsam geschleppt, um vor neuen Wunden sicher zu sein. In dichten Haufen, in ihrem Blute schwimmend, lagen sie hier übereinander, jammernd und oft unter Verwünschungen den Tod fordernd. So endigte eine der blutigsten Schlachten, in welcher mindestens 30.000 Franzosen und Verbündete und ebenso viele Feinde geblutet haben.«
    »Wie viele Württemberger?« fragte Matthäus.
    »Mehr als sechshundert«, antwortete Johannes leise. »Und vierhundert tote Pferde.« Er beeilte sich hinzuzufügen, daß sich die Württemberger besonders tapfer geschlagen hätten. »Marschall Ney hat unseren Generälen versprochen, Napoleon mitzuteilen, daß er ohne die württembergischen Truppen gleiches zu leisten nicht im Stande gewesen wäre.«
    Juliane wachte auf, als Felix, neben Matthäus auf dem Bock sitzend, den Wagen hinter den Truppen herlenkte, die sich wieder über die Straße nach Moskau schleppten. Beinahe ängstlich sahen die Männer sie an, als sie die Flappe des Planwagens hob.
    »Wie weit ist es noch bis Moskau?« fragte sie mit ganz normaler Stimme.
    »Nicht mehr weit«, antwortete Felix, und Matthäus atmete erleichtert auf.

 
Anarchie
    Aus dem Tagebuch von Johannes Gerter:
    September 1812
    Vor den Barrieren Moskaus angekommen, mußten einzelne Patrouillen die ungeheure Stadt nach allen Richtungen durchstreifen, um zu erforschen, ob der Feind im Hinterhalt lauere. Nirgends wurde man Menschen gewahr. Die Häuser waren verschlossen, die Fenster leer, die Straßen öde und still wie das Grab. Auf die Meldung, daß keine Gefahr drohe, rückten Murats Reiter, das württembergische 3te Regiment an der Spitze, langsam und mit Vorsicht ein. Mit unheimlichem Gefühle näherten sie sich dem Kreml. Sie wurden in demselben einen Haufen von einigen Tausend aus dem niedrigsten Pöbel, untermischt von betrunkenen Weibern, die die Anführer zu sein schienen, gewahr. Von diesem Haufen wurde auf die vordersten Reiter Feuer

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