Die Marketenderin
er.
Er zitterte vor Kälte, als er aufstand, denn so heiß die Tage auch waren, in den Nächten wurde es bitterkalt. Gerter glaubte jeden Knochen seines Körpers einzeln zu fühlen, und er wußte nicht mehr, ob er froh sein sollte, noch am Leben zu sein.
»Wasser, Wasser«, hörte er heiseres Krächzen ein paar Meter weiter weg. Er schüttelte seine Feldflasche, nicht ein Tropfen befand sich mehr in ihr und auch ihn selbst quälte fürchterlicher Durst. Wie im Traum stieg er über Leichen, über zuckende Leiber und durchwühlte Tornister nach Eß- oder Trinkbarem, als er auf einmal laute Kommandos hörte. Er blickte auf und sah eine Gruppe von Soldaten aufs Schlachtfeld zu reiten und als er genauer hinblickte, erkannte er die Garden Napoleons.
»Stell dir vor«, sagte er später zu Matthäus. »Da reitet Napoleon doch am frühen Morgen aufs Schlachtfeld, befördert Tote und Sterbende, steckt ihnen alle möglichen Orden an und läßt sie dann einfach da liegen.«
»Aber die Verwundeten wurden zurück nach Smolensk gebracht«, warf Juliane ein, die gerade den Verband an Matthäus' Knie wechselte. Was für geschickte Finger sie hat, dachte Gerter, Matthäus hat's gut, daß er jetzt nicht in einem der überfüllten Spitäler liegen muß!
»Wißt ihr übrigens, welcher Württemberger stolz wie ein Pfau mit einem neuen Orden und einem ziemlich dümmlichen Gesicht hinter Napoleons Garden herlief?«
»Georg Mössner«, sagte Juliane ohne zu zögern und blickte Johannes scharf an. Es sah ihm gar nicht ähnlich, den Neffen, den er so oft vor ihr und anderen in Schutz genommen hatte, so bissig zu beschreiben. »Hat er den Orden denn nicht verdient?« fragte sie.
»O nein, das wird zweifellos seine Richtigkeit haben«, erwiderte Johannes hastig. »Er ist ja sehr eifrig, ehrgeizig und tapfer.«
Er mußte aufpassen, daß ihm keine Andeutung herausrutschte, weshalb ihm Franziskas Sohn jetzt so zuwider war. Er würde ihm nie verzeihen können, daß er den kleinen Jungen hatte ertrinken lassen. Gerter war dankbar, daß auch Matthäus immer nur mit den Achseln zuckte, wenn sie fragte, mit wem sie denn früher das Essen geteilt hätten.
»Wir waren drei«, murmelte sie dann immer nur. »Das weiß ich genau. Und der Mössner war's nicht.«
Johannes stand auf und dankte der Assenheimerin für Tee und Zwieback.
»Oberst von Röder will mich sprechen«, verabschiedete er sich und war froh, der seltsamen Atmosphäre beim Wagen zu entkommen.
Trotz der gewonnenen Schlachten war Oberst Eugen von Röder zutiefst beunruhigt. Er hatte eine Audienz bei Marschall Ney beantragt und ließ sich von Oberleutnant Gerter dorthin begleiten.
»Wußten Sie, daß die Russen einen neuen Oberkommandierenden haben?« fragte er Gerter, als sie zum Zelt des Marschalls gingen. »Fürst Michael Kutusow, den Namen kennen Sie sicherlich?«
»Wirklich!« rief Gerter beinahe erschüttert. »Der ist doch schon hundert Jahre alt!«
»Siebzig, aber – ihr jungen Leute vergeßt das immer gern – das bedeutet auch 70 Jahre Erfahrung. Was bei diesem Krieg entscheidend sein kann. Kutusow ist ein alter Fuchs und zudem viel energischer und leidenschaftsloser als Barclay de Tolly. Ich fürchte allerdings, daß Napoleon ihn unterschätzt.«
»Wegen Austerlitz?« erkundigte sich Gerter.
Der Oberst nickte. »Jedem kann mal ein Fehler unterlaufen, aber Kutusow unterlaufen keine zwei.«
»Haben Sie sich deshalb beim Marschall melden lassen?«
»Nicht nur. Napoleon ruft in Smolensk einen großen Kriegsrat zusammen und er schätzt Ney als seinen erfahrensten Feldherrn. Ich werde versuchen, auf ihn einzuwirken.«
Das war gar nicht nötig, denn Marschall Ney hatte sich schon vorgenommen, dem Kaiser Besonnenheit ans Herz zu legen. Aber er fand kein Gehör, als er beim Kriegsrat in Smolensk vorschlug, nicht weiter in das unermeßliche Reich der Russen vorzudringen, weil sonst Flanken und Rücken preisgegeben würden. Napoleon hörte lieber auf einen anderen Feldherrn, auf Murat, den kleinen König von Neapel, der ein ziemlich unerfahrener Krieger war und für ein unaufhaltsames Vorrücken nach Moskau stimmte.
»Es dauert nicht mehr lange, bis wir die Russen endgültig niedergeworfen haben und siegreich in Moskau einziehen können«, versicherte der Kaiser. Neys Prophezeiung, diese Einstellung würde noch Verderben über das Heer bringen, wischte Napoleon vom Tisch und gab den Befehl zum allgemeinen Aufbruch.
In drei Hauptkolonnen marschierte die Große Armee bei
Weitere Kostenlose Bücher