Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
Kinder in jenem Palast geboren sein könnte, aus dessen Kellergewölben sie die ersten Vorräte für ihren Laden geholt hatte. Daß sie sich auf Kosten anderer bereicherte, bereitete ihr keine Kopfschmerzen, denn sie hatte inzwischen längst begriffen, daß sich im Krieg jeder selbst der nächste war.
    Der christliche Auftrag seinen Nächsten zu lieben, nicht zu morden und zu stehlen, war in Kriegszeiten außer Kraft gesetzt, und bei dem Gedanken daran beschlich Juliane gelegentlich ein unbehagliches Gefühl. Durfte sich ein Kaiser über göttliche Gebote hinwegsetzen? Und wenn, hatte sie dann das gleiche Recht?
    Immer wieder fragte sie sich, was sie allesamt eigentlich in Moskau zu suchen hatten. Napoleon wollte Rußland erobern, um England zu schaden? Warum führte er dann keinen Seekrieg mit dem Inselreich und ließ die Bewohner auf dem Festland in Frieden leben?
    So einfach sei das alles nicht, hatte ihr Johannes auf solche Bemerkungen schon mehrmals versichert. Es ärgerte sie, daß er sich immer über sie lustig zu machen schien, wenn sie mit ihm über Politik sprach. Vielleicht war sie manchmal wirklich zu heftig, aber sie meinte es ernst, sie wollte lernen und verstehen.
    »Politik wird von Menschen für Menschen gemacht, oder?« fragte sie ihn, als sie nach einer Festveranstaltung mit ihm und Matthäus noch im großen Salon zusammensaß.
    Sie war an diesem Abend besonders streitlustig, weil Felix sie wieder im Stich gelassen hatte. An die Verabredung, daß sie zu dritt die Gäste versorgen sollten, hielt sich der kleine, breitschultrige Diener mit dem schwankenden Gang immer seltener. Als sie sich bei Johannes darüber beschwerte, zuckte er nur mit den Achseln und meinte, dann müsse man eben weiteres Personal einstellen. Er schien in keiner Weise geneigt zu sein, Felix zur Verantwortung zu rufen. Juliane fand es höchst merkwürdig, daß der immer pflichtbewußte und auf dem Marsch so zuverlässige Felix jetzt seine Pflichten versäumte. Noch seltsamer erschien es ihr aber, daß der anspruchsvolle Oberleutnant sich einfach damit abfand und von seinem Diener keine Erklärung verlangte, wenn der erst spätnachts nach den Festen wieder im Palast eintraf.
    »Natürlich wird Politik von Menschen für Menschen gemacht«, bestätigte Johannes, »aber du darfst dabei nicht vergessen, daß der einfache Mann unfähig ist, sich die Tragweite vieler Entscheidungen vorzustellen. Dafür muß man sich mit Geschichte beschäftigt haben und etwas über diplomatische Taktik wissen, man muß informiert sein über den Gang der Dinge im eigenen Land und in fremden Ländern, wissen, was machbar ist und was nicht. Politik ist die Kunst der Staatsverwaltung, und Kunst kommt von Können«, schloß er etwas hilflos, als Juliane wütend auf das kleine Beistelltischchen mit den zierlichen Beinen einhieb. Es zersplitterte und Matthäus erhob sich mühsam und warf die Trümmer in den Kamin.
    »Ach ja, dann hat sich Napoleon alles genauso vorgestellt, wie es gekommen ist? Ich bin wirklich nicht fähig, mir die Tragweite seiner Entscheidungen vorzustellen, selbst dann nicht, wenn ich – im Gegensatz zu Seiner Majestät – die Tragweite jeden Tag auf der Straße sehe.«
    Sie holte tief Luft und setzte wieder an: »Geschichte hat er also studiert, ja? Aber Menschen kommen in diesem Studium offenbar nicht vor. Sonst wüßte er ja, daß ein Mensch als allererstes was zu essen braucht und ein Dach über dem Kopf. Was will der Mensch? In Ruhe und Frieden leben und mit seiner Familie um sich herum im weichen Bett sterben …«
    »Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«, unterbrach Gerter.
    »Aber das ist es ja eben! Wir sind die bösen Nachbarn, wir sind in Rußland eingefallen! Was haben uns denn die Leute getan, die jetzt in den Schutthaufen nach ihrem Eigentum wühlen? Ich kann es gut verstehen, wenn sie uns zum Teufel wünschen …«
    »Liebling, wir sind nur unserem Befehl nachgekommen …«
    »… zu morden, zu plündern, Menschen obdachlos und zu Waisen zu machen. Kann mir einer von euch sagen, warum wir solchen Befehlen nachkommen müssen? Vielleicht einer, der Geschichte studiert hat? Warum lassen wir überhaupt zu, daß Befehle gegeben werden, die uns zwingen, gegen die zehn Gebote zu verstoßen? Die hohen Herren sitzen in ihren Palästen und spielen mit uns wie mit Zinnsoldaten. Aber um was geht es? Um unser Leben! Dürfen wir denn keine Meinung haben? Warum fragt der König

Weitere Kostenlose Bücher