Die Markgräfin
vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen, im Kirchenarchiv weiterzuforschen.«
»Oder er ist einfach nicht mehr dazu gekommen, weil er so plötzlich gestorben ist. Na, vielleicht finde ich was im Dekanat. Erklären Sie mir, wo das ist?«
Nachdem er sich von Kleinert verabschiedet hatte, fasste Geli Hufnagel ihn draußen am Arm. Sie roch angenehm nach einer Mischung aus Seife und Kaffee, was ausgezeichnet zu ihr passte, fand Fleischmann.
»Wenn Sie möchten, gehe ich nächste Woche mit Ihnen zu Pfarrer Kellermann. Das Dekanat ist ziemlich schwer zu finden.«
Fleischmann jubilierte. Die Sonne brach gerade durch die dunklen Wolken, als er das Stadtarchiv verließ. Er versuchte einen unbeholfenen Luftsprung,
machte kleine Ausfallschritte und piekste übermütig mit seiner Schirmspitze Löcher in die regengeschwängerte Luft, als ob der schwarze Knirps ein Florett wäre – d’Artagnan auf dem Rückweg von seiner Angebeteten. Wie schön war doch die Welt!
Während Thomas Fleischmann frisch verliebt und glücklich auf der Autobahn Berlin-Nürnberg gen Heimat fuhr, befand sich der Kastellan auf dem Rückmarsch. Da er den Weg jetzt schon kannte und ihn außerdem der Hunger vorwärts trieb – die beiden Schokoriegel hatten ihm eher noch Appetit gemacht –, stapfte er zügig die buckligen Treppen hinauf, so schnell es seine Kondition erlaubte. Er war schon relativ weit gekommen, als er in der Ferne ein undefinierbares Geräusch hörte, ein Rascheln, Brechen oder Bröseln. Haubold blieb stehen und horchte, aber es war schon vorbei. Gerade als er den Kopf schüttelte und seinen Fuß hob, um weiterzugehen, kam ihm aus dem Tunnel eine Staubwolke entgegen, die ihn vorübergehend blind machte und ihm den Atem nahm. Er hustete, taumelte rückwärts gegen die Wand, ließ die Taschenlampe fallen und schlug schützend die Arme vors Gesicht. Um nicht den Staub einatmen zu müssen, zog er sein T-Shirt am Halsausschnitt hoch und drückte es vors Gesicht.
Nach einigen Minuten hatte sich die Staubwolke gelegt und Haubold konnte wieder etwas sehen. Die
Taschenlampe lag am Boden und brannte wie durch ein Wunder immer noch; er hob sie auf und leuchtete nach oben. Sein Mund und seine Nase waren voller Staub; er spuckte aus und schnäuzte sich mit dem Stofftaschentuch, das er immer einstecken hatte. Um Gottes Willen, der Gang ist eingestürzt, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Panik ergriff ihn und raubte ihm für einen Moment jeden vernünftigen Gedanken. Raus hier, nur raus hier, war sein erster Impuls. Er war schon im Begriff, sich umzudrehen und wieder bergab zu stürmen, als ihm gerade noch einfiel, dass es dort unten ja auch nicht weiterging. Er merkte, dass seine Knie weich wurden, und setzte sich erst einmal auf die Treppe. Jetzt ruhig bleiben, ruhig bleiben und nachdenken. Haubold atmete ein paar Mal tief durch. Noch ist nichts verloren, dachte er, erst einmal nachschauen, was dort oben passiert ist. Als ihm nach zwei, drei Minuten seine Beine wieder gehorchten, machte er sich weiter an den Aufstieg.
Er ging vorsichtig und gab sich Mühe, so wenig Geräusche und Erschütterungen wie möglich hervorzurufen. Auf den ersten paar hundert Metern war nichts zu sehen. Auch auf den nächsten nicht. Erst als er in die Nähe seiner Einstiegsstelle unter der Ostwand des Hochschlosses kam, sah er die Risse überall. Und dann stand er vor einer Wand aus Geröll und Erde. Aus. Ende. Er war verschüttet.
Er wollte rufen, aber etwas schnürte ihm die Kehle zu, und er brachte nur einen leisen, gurrenden Piepser zustande, der unter anderen Umständen komisch geklungen hätte. Gleich darauf war er froh darüber, dass ihm die Stimme versagt hatte – wer wusste schon, wie instabil der Gang jetzt war. Vielleicht konnte schon ein lauter Ton zu weiteren Einstürzen führen. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihm hoch, und ihn überkam ein dringendes Bedürfnis, Wasser zu lassen. Vorsichtig legte er den Rucksack ab und erleichterte sich ein paar Schritte weiter gegen die Tunnelwand. Schon als Kind Nervositätspinkler gewesen, dachte er und musste beinahe grinsen. Dann wurde er sich wieder des Ernstes seiner Lage bewusst. Er beschloss, sich hinzusetzen und erst einmal zu überlegen. Das Wichtigste war, nicht die Nerven zu verlieren.
Luft zum Atmen würde er genug haben, weil der Gang vermutlich Luftzufuhr von außen hatte. An Vorräten waren ihm eine Dose Cola und ein Schokoriegel geblieben. Verhungern würde
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