Die Markgräfin
er zwar nicht so schnell – schließlich hatte er wahrhaftig genügend Reserven, von denen er zehren konnte! Aber verdursten … dann fiel ihm ein, dass weiter unten der Gang so feucht war, dass es von der Decke tropfte und auf dem Boden das Wasser in Pfützen stand. Zur Not würde ihm das eine Zeit lang reichen. Also weiterdenken! Licht. Er hatte noch die Taschenlampe, aber
keine Batterie mehr. Dazu die Karbidlampe mit drei Brennstoffrollen und eine Schachtel mit fünf Kerzen. Außerdem einen Zehnerpack Streichhölzer und das Armeefeuerzeug. Er nahm eine der dünnen gelben Kerzen, klemmte sie zwischen zwei Steine und zündete sie an. Dann knipste er die Taschenlampe aus, um Batterie zu sparen.
Ich Idiot, haderte er mit sich selber, ich dämlicher Hornochse, warum bin ich hier bloß allein eingestiegen? Ich hätte es doch wissen müssen. Er begann, sich maßlos darüber zu ärgern, dass er niemandem über sein Vorhaben Bescheid gesagt hatte. Er sah auf die Uhr: schon fast sechs. Daheim würde ihn keiner vermissen – Susanne würde wie jeden Abend zwischen acht und neun Uhr anrufen und denken, er sei eben in der Kneipe oder bei Freunden. Die ersten, die bemerken würden, dass er nicht da war, würden die Bauarbeiter sein. Heute war Freitag. Am Montagmorgen sollten sie bei ihm Instruktionen abholen, wie es mit den Arbeiten weiterging. Aber die würden sich bestimmt keine Gedanken machen, wenn er nicht da wäre. Vielleicht Frau Baumann, die ab neun Uhr Kassendienst machte und der er immer aufsperrte. Blödsinn, Montag war ja Ruhetag auf der Burg. Haubold bemerkte, wie sich in seinem Hals ein dicker Kloß bildete. Jedenfalls, selbst wenn man feststellen sollte, dass er verschwunden war – niemand würde auf die völlig abwegige Idee kommen, dass er
in einem Geheimgang unter der Burg festsaß. Seine einzige Chance war abzuwarten, bis die Arbeiter an der Stelle waren, wo er in den Gang gekrochen war. Wenn er Glück hatte, bemerkten sie, dass er sich einen Weg hinein gebahnt hatte. Costa war ein kluges Bürschchen, vielleicht sah er das Loch und zählte eins und eins zusammen. Aber vielleicht war ja alles so verschüttet, dass draußen überhaupt nichts mehr zu erkennen war. Haubolds Hoffnung sank auf den Nullpunkt. Keiner würde so bald nach ihm suchen, und wenn, dann wäre er schon längst nicht mehr am Leben. Er stierte in die brennende Kerze vor sich. Er fühlte sich so fix und fertig, als ob er hundert Jahre auf dem Buckel hätte. Am liebsten hätte er geheult wie ein Schlosshund.
Er blieb einfach sitzen und konnte eine Weile lang keinen klaren Gedanken mehr fassen. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass es kalt hier unten war. Er fror ein bisschen vor sich hin, unfähig, die Hand zu heben und das Baumwollhemd aus dem Rucksack zu kramen, das er vorsorglich eingepackt hatte. Schließlich riss er sich zusammen und zog den Reißverschluss auf. Und plötzlich durchzuckte es ihn: das Handy! Großer Gott, er hatte das Handy ganz vergessen. Er hatte es in eine der Seitentaschen gesteckt. Seine Finger zitterten, als er es hektisch herausfummelte. Zuerst die Tastensperre entsichern. Es piepste. Bitte geben Sie Ihre PIN -Nummer ein. In der Aufregung konnte er nicht klar denken. Welche PIN -Nummer, Menschenskind, wie ist wieder die PIN -Nummer? Jetzt ganz langsam. Er überlegte fieberhaft – der Geburtstag von Lina, ja genau. Zwölfter Mai 1994 . Er tippte: 0594 . Pieps. Die Tastaturbeleuchtung ging an. Haubold machte innerlich einen kleinen Freudensprung; sein Herz klopfte mit einer Frequenz jenseits der 200 . Auf dem Display erschien in schillerndem Grün ein stilisierter Funkturm und blinkte: Netzsuche.
Der Kastellan schloss die Augen. Er hätte es wissen können. Natürlich hatte er hier unten keinen Empfang. Wie auch, metertief unter der Erde? Aus der Traum. Jetzt heulte Haubold wirklich, dass es ihn schüttelte. In der nächsten Stunde büßte er alle Sünden ab, die er bisher in seinem Leben begangen hatte, einschließlich etlicher, die er vielleicht noch in der Zukunft begehen könnte. Sofern er am Leben blieb.
Schließlich riss sich Haubold aus seiner Verzweiflung. Die Abzweigung war ihm wieder eingefallen. Neue Hoffnung flammte in ihm auf – da war noch eine Möglichkeit, durch eigene Initiative aus dem Tunnel herauszukommen. Er hatte den zweiten Gang, der weiter unten vom Stollen abzweigte, noch nicht erforscht. Vielleicht ließ sich ja dort ein Ausstieg finden. Versuchen musste er es, solange sein Licht
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