Die Mars-Stadt
»Warum? Nun, für die von euch, die an dem Deal nicht
beteiligt waren oder sich nicht daran erinnern: Vor ein paar
Jahren, als dies alles auf den Weg gebracht wurde, fehlte es uns
an der nötigen Zeit und den Ressourcen, AIs zu entwickeln,
die gerade so intelligent waren, dass sie die Station bauen, aber
nicht so intelligent, dass sie Ärger machen konnten. Kopien
der kopierten menschlichen Bewusstseine anzufertigen und sie auf
einer vorbewussten Ebene der Integration laufen zu lassen, war
die schnellste und billigste Methode, uns die Software für
die Bauroboter zu beschaffen. Nach kurzer Zeit stellten wir fest,
dass sich diese Bewusstseine – Bewusstseine wie du –
nach unterschiedlich langer Zeit unweigerlich integrierten. Sie
wachten auf, und dann drehten sie durch, was nicht verwunderlich
ist. Daher statten wir euch mit virtuellen Realitäten aus,
damit ihr nicht das Gefühl bekommt, man habe euch in einen
Roboter verwandelt.
Aber ob’s dir gefällt oder nicht, jetzt steckst du
in einem drin, wie Guevaras idealer Sozialist bist du ›ein
Zahnrad in der Maschine, aber ein bewusstes Zahnrad‹. Im
Unterschied zum Sozialisten aber bieten sich dir individuelle
Anreize, wenngleich man darüber streiten kann, ob es sich um materielle Anreize handelt. Wenn du dich
entschließt, das Beste aus deiner Lage zu machen, wirst du
mit immer umfassenderen und erfreulicheren virtuellen
Realitäten, Erweiterungen deiner geistigen Fähigkeiten
und so weiter belohnt werden, bis du irgendwann bereit bist, bei
deiner Freilassung dauerhaft in den Makro überzuwechseln,
falls du das möchtest. Das wird so sein, als ob du stirbst
und in den Himmel auffährst. Oder wenn dir das lieber ist,
kannst du irgendwann auch in deinem menschlichen Körper
wiederauferstehen.
Wenn du mit keiner dieser Möglichkeiten einverstanden
bist – nun, die entsprechenden Instruktionen findest du auf
dem Computer nebenan. Jetzt, da du dieses… äh…
Informationsvideo gesehen hast, wird er funktionieren. Dieser
Rechner kann dich in den Zustand vor dem Aufwachen
zurückversetzen. Dann hast du ein, zwei Stunden an
Erfahrungen verloren, mehr nicht. Wenn du beim nächsten Mal
wieder aufwachst, wirst du dich an nichts mehr erinnern, und
vielleicht bist du dann ja besser in der Lage, mit der Situation
umzugehen… Vielleicht auch nicht. Es liegt an
dir.«
Reid lächelte unangemessen fröhlich und verschwand.
Seine Stelle nahm ein Bildschirmschoner ein, der den rotierenden
Planeten vor dem Fenster darstellte, und die Meldung: Wünschen Sie weitere Informationen, drücken Sie
bitte erneut die Taste mit der Eins.
Ich saß da und überlegte.
Durch die Botschaft hatte sich nichts verändert. Ich
konnte immer noch nicht entscheiden, welche meiner
Überlegungen hinsichtlich meiner Erfahrungen zutreffend
waren und welche nicht. Ich wusste bloß, dass ein Teil
meiner Umgebung eine Simulation war und dass jemand mich glauben
machen wollte, es handele sich dabei um die Elemente, die aller
Erfahrung nach real sein mussten. Jetzt verstand ich, weshalb
Descartes den Teufel angerufen hatte, um ein ganz ähnliches
Gedankenexperiment durchzuführen: Wer immer dafür
verantwortlich war, er meinte es nicht gut mit mir.
Angenommen, der Inhalt der Botschaft entsprach der Wahrheit,
dann folgerte daraus, dass Reid sich nicht persönlich an
mich gewandt hatte. Aus seiner Perspektive war ich Teil des
Roboterschwarms. (In wie vielen dieser umherwimmelnden Roboter
liefen wohl Kopien meiner selbst? Diese Vorstellung hatte etwas
unendlich Deprimierendes, denn wenn das Angebot steigt und die
Produktionskosten sinken, mindert sich auch der Wert der
Seele.)
Auch über die Erde hatte er nichts gesagt: Hinter der
Auslassung musste wohl eine Absicht stehen. Siebenundvierzig
Jahre waren seit meinem vermutlichen Tod vergangen. ›In
ferner Zukunft mag gar der Tod sterben.‹ Jetzt, da die
ferne Zukunft angebrochen war, gab es keinen Grund zu der
Annahme, dass Annette oder sonst jemand in der Zwischenzeit
gestorben war.
Reids Schweigen zu einer Frage, die sich in dieser Lage jeder
stellen musste, war befremdlich.
Ich ging wieder ins Schlafzimmer. Wie der Mann im Fernsehen
gesagt hatte, funktionierte der Computer jetzt. Ich ließ
meine Finger über das Datapad wandern und suchte unter den
Bildschirmicons. Es war ein seltsames Gefühl, ein solch
primitives Interface zu benutzen, doch eigentlich lag es nahe:
Eine virtuelle
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