Die Mars-Stadt
war etwas
anderes.
Ich nahm den Kaffee und die Zigaretten ins Wohnzimmer mit.
Nach kurzer Suche entdeckte ich in einer Zimmerecke eine
Fernbedienung für den Fernseher. Ich setzte mich aufs Sofa
und schaltete den ersten Kanal ein. Daraufhin hätte ich
beinahe die Tasse fallengelassen.
Auf dem Bildschirm erschien Reids Gesicht. Er wirkte
körperlich jünger als bei unserer letzten Begegnung
– damals hatte ich überhaupt zum letzten Mal etwas
real gesehen –, jedoch geistig gereift. Ich kann es nicht
anders beschreiben; in seinen Zügen spiegelten sich schwer
erarbeitete Weisheit und Erfahrung wieder, die selbst bei einem
alten Weisen erstaunt hätten. In Anbetracht seines
vertrauten, jugendlichen Aussehens war dies umso
verblüffender.
»Das ist eine Aufzeichnung«, sagte er
lächelnd. Er deutete ins Zimmer hinein. »Und auch
deine Umgebung ist virtuell, wie du mittlerweile sicher schon
vermutet hast. Dass du dir die Aufzeichnung anschaust, bedeutet,
dass du das Bewusstsein wiedererlangt hast. Video, ergo
sum oder so ähnlich – jedenfalls willkommen! Es
war bestimmt nicht sehr spaßig, ein Flatliner zu sein, was
du bis jetzt nämlich warst. Du warst Teil eines Programms,
das ganz reflexhaft funktionierte: sozusagen ein virtueller
Zombie, und jetzt hat dich ein unvorhergesehes, wahrscheinlich
aber unvermeidliches Zusammentreffen von Umständen
aufgeweckt.«
Er legte eine Pause ein. »Wenn du mich nicht verstanden
hast oder dich verwirrt fühlst, schalte bitte den zweiten
Kanal ein.«
Ich rührte mich nicht.
»Gut«, fuhr Reid fort. »Ich wusste, du
würdest es schaffen – man muss schon geistig stabil
und verdammt zäh sein, um sich den Kopf einfrieren oder das
Gehirn scannen zu lassen oder was auch immer du getan hast, um
hier zu landen. Also werde ich Klartext reden.
Heute haben wir den…« (ein winziges Stocken, ein
unbedeutender Softwarefehler) »… 3. März 2093.
In Anbetracht dessen, was da vor sich geht, mag dich das wundern
– so bald hast du bestimmt nicht damit gerechnet, oder?
Willkommen in der Singularität. Was du da draußen
siehst, ist das Werk von Milliarden bewussten Wesen, die
tausendmal schneller leben und denken als du. Bei den Wesen, die
sich zwischen den Streben dieses Gebildes umherbewegen, handelt
es sich um verschiedene Zivilisationen von Nachfahren der
Menschen. Diese Makroorganismen oder Makros, wie sie von den
Menschen genannt werden, sind Konstellationen intelligenter
Materie – dessen, was wir als Nanotech zu bezeichnen
pflegten – und imstande, virtuelle Realitäten aufrecht
zu erhalten, die Millionen von Bewusstseinen beherbergen. Jedes
einzelne dieser Bewusstseine erlebt kollektive oder private
Simulationen von Welten, die unsere kühnsten Träume
übertreffen.
Jedes Bewusstsein ist imstande, seine Fähigkeiten weit
über das, was wir als menschlich betrachten, hinaus zu
steigern und seine vorhandenen Fähigkeiten entsprechend zu
nutzen.
Und viele von ihnen waren einmal wie du! Ein gewöhnlicher
Mensch, dessen Gehirninhalt Neuron für Neuron, Synapse
für Synapse in einer Infiltrationsmatrix aus intelligenter
Materie gespeichert wurde. Gespeichert und repliziert und dann
auf einer technisch hochentwickelten Hardware abgespielt, mit
einem Erfolg, den zu würdigen du dich derzeit in einer
idealen Position befindest.«
Er lachte. Sein Tonfall jagte mir einen kalten Schauder
über den Rücken; für gewöhnlich zeugt
Zynismus von Oberflächlichkeit und Unreife, bei ihm jedoch
war er tiefgründig und reif.
»Du wirst dich vielleicht fragen, weshalb ich nicht
einer von ihnen bin. Natürlich hast du keinen triftigen
Grund zu glauben, dies wäre nicht der Fall. Aber
zufällig stimmt es. Außerdem wirst du dich vielleicht
fragen, was du eigentlich im Onboardrechner eines
Wartungsroboters machst, der nicht aus intelligenter Materie
besteht, sondern aus, wie man jetzt sagt, ›dummer
Masse‹.
Was mich betrifft, so ist die Antwort kompliziert. Was dich
betrifft, ist sie einfach. Du bist tot. Ja, mein
Dummmasse-Freund, zumindest eine Kopie deines geliebten Ichs ist
in ein paar Kubikzentimetern intelligenter Materie gespeichert
und wartet auf eine Wiederauferstehung an einem günstigeren
Ort. Die ist dir, das heißt, deinem realen Ich, sicher. Wir
werden unseren Teil der Vereinbarung einhalten. Aber die Kopie,
die du jetzt bist, gehört einstweilen uns.«
Ein Lächeln.
»Nächste Frage«, fuhr Reid fort.
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