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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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oder weniger mit natürlicher Geschwindigkeit abliefen:
Langsamdenker wurden sie genannt. Die meisten stammten aus den
Lagern der Arbeitsfirma. Ungeachtet des Umstands, ob sie sich
noch in ihrem Ursprungskörper oder in einem Robot befanden,
war ihre Aufgabe, die Zivilisationen der intelligenten Materie
für die dumme Masse nutzbar zu machen und deren Früchte
zu ernten. Im Innern der Makros hatten sich die anderen –
die Schnelldenker – unterdessen kopiert, aufgespalten,
waren verschmolzen und hatten sich mit postbiologischer
Geschwindigkeit milliardenfach vermehrt. In dem Info wurde der
Prozess so geschildert, als habe er in einer fernen Vergangenheit
stattgefunden, wenngleich aus den Daten hervorging, dass er erst
vor drei Jahren zum Tragen gekommen war.
    Diese Bewusstseine aber dachten und lebten tausendmal
schneller als menschliche Gehirne. Für sie war unsere Welt
bereits so fern wie das Reich der Sumerer, und die ihre erschien
ihnen wie das Tausendjährige Reich gottähnlicher
Menschen.
     
    Das nächste Bild bot die Option Schließen an. Im Text wurde wiederholt, was Reid erklärt hatte,
einschließlich seines Angebots, vorübergehend und auf
unbestimmte Zeit in den Zustand der Vergessenheit einzugehen. Ich
brauchte bloß meinen Namen einzutippen.
    Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Dann bemerkte ich
ein Icon mit einem Dateianhang, der die Bezeichnung
›History‹ trug. Geschichte, genau das, wonach ich
gesucht habe, dachte ich, und klickte darauf.
    Es handelte sich nicht um die Geschichte des Projekts oder der
Welt, sondern um die History des Schließen-Files: mein
Name, Daten und Uhrzeiten. Die Zeiten zwischen ›Status
geöffnet‹ und ›Status geschlossen‹
reichten von Stunden bis zu Wochen im vorletzten Eintrag.
    Insgesamt waren es sieben. Der achte Eintrag war vor ein paar
Stunden auf ›Status geöffnet‹ gesprungen.
    Zum Teufel mit euch, wandte ich mich an meine schwächeren
früheren Ichs. Ich würde die Sache durchstehen, und sei
es bloß deshalb, weil Selbstmord keine Lösung
darstellte. Wenn es überhaupt einen Ausweg gab, würde
er sich nicht aus meinem Tod ergeben, sondern aus dem Tod der
Person oder Wesenheit, die für meine Lage verantwortlich
war.
    Ich wollte schon immer ewig leben… aber nicht zu diesen
Bedingungen. Ich hatte mir immer gewünscht, das Ende der
Geschichte sollte lauten: Und sie lebten glücklich und
zufrieden bis ans Ende ihrer Tage anstatt: Und alle
starben und kamen in den Himmel. Ich hatte immer geglaubt,
wir bräuchten erst dann über die Transzendenz des
Menschseins nachdenken, wenn wir ans Ziel gekommen
wären.
    Irgendetwas in mir hatte sich verändert. Wenn der
Computerfile der Wahrheit entsprach, hatte ich bislang sieben Mal
den Tod gewählt anstatt dieser Existenzform. Reid aber hatte
angedeutet, dass die spontan wiedererweckte Person irgendwann
besser mit der Situation zurechtkommen könnte. Die
ständig länger werdenden
›Überlebenszeiten‹ deuteten auf einen Auslese-
oder Anpassungsprozess hin: Bei jedem Wiedererwachen hatte ich
weniger Eisen in meiner Siliziumseele.
    Ich hatte mich immer für einen harten Burschen gehalten.
Jetzt, im Rückblick auf mein reales Leben, stellte ich zu
meiner Verblüffung fest, wie viel zynischer und
rücksichtsloser ich mich hätte verhalten können.
Falls mein Gedächtnis nicht verändert worden war,
hatten sich meine Wertvorstellungen nicht verändert,
bloß die Leidenschaft, mit der ich sie verfocht, hatte sich
verfestigt.
    Ich blickte zu den fremdartigen Wesen hinaus, die den letzten
Rest Menschlichkeit abgelegt hatten, die mich als Maschine
missbraucht hatten und mich jetzt als Hilfsarbeiter einspannen
und mit hübschen Visionen abspeisen wollten. Ich wusste,
dass ich so lange leben wollte, bis ich erlebte, wie ihre bizarre
Schönheit zugrunde ging. Und dass es dazu kommen würde,
wusste ich: In diesem Moment sah ich ihr Schicksal voraus.
    Ich war interessiert, und ich würde ihrem Ende
beiwohnen.
     
    Ich ging wieder ins Wohnzimmer, zündete mir eine weitere
Zigarette an und drückte abermals die erste Taste. Der
Fernseher reagierte nicht.
    »Hallo«, sagte eine Stimme neben mir. Ich wandte
mich um und erblickte eine Frau, die am anderen Ende des Sofas
saß. Sie hatte ein elfenhaftes Gesicht ohne eindeutige
ethnische Zugehörigkeit. Ihr schwarzer Haarschopf und das
hauchdünne schwarze Hemd reichten beide bis zu ihren
Hüften. Sie legte die

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