Die Mars-Stadt
Schadenersatzansprüche.
Das Gesetz erhebt nur hin und wieder sein Haupt über den
Geschäftsstrom, und die daraus sich ergebenden Polizeishows,
Gerichtsdramen und Straflagerkomödien bieten – in
realer wie in fiktiver Form – jede Menge Unterhaltung. Die
meisten Martern und Demütigungen, die wir auf dem Bildschirm
sehen, sind – glücklicherweise – reine
Pornographie. Die durch Gottesurteile und Kampf auferlegten
Prüfungen sind real.
Religion kommt auch vor. Der höchste kirchliche
Würdenträger ist die Bischöfin des Neuen Mars.
Eine reformierte orthodoxe Katholikin, deshalb wird sie das Amt
an eines oder mehrere ihrer Kinder weiterreichen, obwohl sie
hinsichtlich der Nachfolge durchaus ihre Skrupel hat. Mit den
wenigen Buddhisten und dem Rabbi (habt Ihr etwa geglaubt, es
gäbe hier keine Juden?) geht sie freundlich um, den
verrückten Ketzern begegnet sie mit strenger
Nächstenliebe; deren Irrglauben, sie lebten hier das Leben
nach dem Tode oder der Neue Mars sei eine postapokalyptische
Inszenierung, ist in Anbetracht der Umstände
verzeihlich.
Politik – Fehlanzeige. Hier herrscht Anarchie, erinnert
Ihr Euch noch? Doch es ist eine Anarchie aus Nachlässigkeit.
Es gibt keinen Staat, weil niemand sich die Mühe machen
will, ihn zu organisieren. Zu viel Trouble, Mann. Halt dich aus
allem raus, zieh den Kopf ein, so war es schon immer, und es wird
sich auch nie etwas daran ändern, und außerdem (und
vor allem), was sollen die Nachbarn denken? (Sie werden
nämlich niemals mitziehen. Das ist wider die menschliche
Natur.)
Die Außenseite des Nervensystems der Stadt stellen
dessen Sinnesorgane dar: Kameras und Mikrofone, die der
Nachrichtengewinnung und der Überwachung dienen, Detektoren
für Chemikalien und Spannungen, die über ihre
Gesundheit wachen. Fangen wir oben an: Auf dem höchsten und
am zentralsten gelegenen Turm befindet sich eine Kugel von der
Größe eines menschlichen Kopfes. Dies ist nichts
weiter als eine Rundumkamera, eine Vorrichtung, die dort in
sozialem Überschwang oder aus privatem Interesse angebracht
wurde. Von dort aus können wir die Schwindel erregende
Silhouette der Hochhäuser überblicken, die
schließlich niedrigeren Flachdächern weichen, die
ihrerseits den Kuppeln, Baracken und Hütten am Stadtrand
Platz machen.
Wie jeder der fünf Radialarme der Stadt besitzt auch
dieser die Form eines gestreckten Rhombus, der sich zunächst
verbreitert und dann in einer Spitze ausläuft. Es gibt zwei
Arten von Gebäuden: die gewachsenen und die gebauten. Die
ersteren sind aus sich überschneidenden
regelmäßigen und unregelmäßigen Polygonen
zusammengesetzt: letztere aus Rechtecken. Form und Lage der
gitterartig gegliederten Zellstrukturen sind ebenso zufällig
wie die Lage der Felsblöcke nach einem Erdrutsch oder die
der Steine im Geröll, und zwar aus dem gleichen Grund: Es
geht um maximale Ausnutzung des vorhandenen Platzes. Die gebauten
Gebäude gehorchen einem anderen ökonomischen Prinzip
und ragen empor oder bohren sich in die Erde, wie ihre
unvorhersagbaren Gesetze es diktieren.
Beide Gebäudetypen – beide Gesetze der Standortwahl
– folgen den Straßen, und die Straßen folgen
den Kanälen. Die Kanäle bilden ein Kreissystem: Der
Ringkanal umfasst das ganze Gebiet, die Radialkanäle
durchschneiden die Arme, und ein jeder besitzt zahllose
Zuflüsse und Kapillaren. Nahe am linken Rand des Arms, auf
den wir hinunterblicken, liegt ein ungewöhnlich langer
Kanal, der unmittelbar unter uns anfängt und sich bis
über den Horizont hinaus erstreckt: der Steinkanal.
Der Mann beugt sich in die Fensteröffnung und stützt
einen Teil seines Gewichts mit den Fingerspitzen ab. Der Beton
fühlt sich rau an. Er blickt aus dem hoch gelegenen Fenster
auf den Steinkanal hinunter. Wie er so sein Gewicht auf den
Fußballen und Fingerspitzen balanciert, sieht man die
straffen Muskeln unter dem weichen Stoff seines Jacketts. Die
Muskeln spannen sich an, und er richtet sich auf, dreht sich um.
Das schwarze Haar schnellt mit der Geschwindigkeit seiner
Bewegung am Kinn vorbei.
Die anderen beiden Männer im Raum sind größer
und stämmiger als er, weichen aber beide ein wenig vor ihm
zurück, als er sich ihnen nähert. Ein paar Meter vor
ihnen bleibt er stehen und funkelt sie an.
»Ihr habt sie verloren«, sagt er. »An die
Abolitionisten.« Er hat einen Akzent, den man in der Stadt
nicht oft zu hören bekommt, aus
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