Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
Vom Netzwerk:
sagte, dass ich zusammen
mit den taiwanesischen Studenten demonstrieren würde.
    »Ach so«, murmelte er. »Die Kuomintang. Wir
unterhalten uns später.«
    Weder ich noch Annette kamen je wieder auf seine
Äußerungen zu sprechen, und er hatte anscheinend bei
jeder Demo eine neue Freundin dabei. Sie alle, ob sie nun
Bernadette, Mairi, Anne oder Claire hießen, kamen mir wie
ferne Verwandte Annettes vor, dunkelhaarige Irinnen mit
strahlenden Augen und ironischem Tonfall.
    Er äußerte sich nie über den steten Strom
antisozialistischer, dissidenter oder einfach bloß
wirrköpfiger Propaganda, die ich ihm schicken ließ.
Eigentlich war dies alles auch überflüssig: So wie die
Dinge in der kommunistischen Welt liefen, hätte ein Abo der Moscow News bereits ausgereicht.
    Doch die Lektüre zeigte Wirkung, wenn auch nicht die von
mir erhoffte.

 
7    Ein Leben
am kritischen Punkt
     
     
    »Im Grunde«, sagt Ax, als er mit Dee am Kanalufer
entlang zum Circle Square zurückschlendert,
»weiß ich nicht, ob ich es glaube. Ich meine, die
meisten Menschen nehmen das ebenso wenig ernst wie fliegende
Untertassen, altmarsianische Ruinen, Elvis und diesen ganzen
Scheiß. Aber mir ist so einiges zu Ohren
gekommen.«
    Er stockt, um anzudeuten, dass Dee die Geschichten, die er
gehört hat, ebenfalls hören wird. Sie nickt.
    »Red weiter.«
    »Also, einige von uns… nicht Tamara, nicht die
Aktivisten, okay, haben immer schon geglaubt oder sich
gewünscht, dass Wilde wiederkommen würde. Oder
durchkommen. Und im Laufe der Jahre wurde er auch gesehen. Oder
angeblich gesehen. Draußen in der Wüste. Manchmal zu
Fuß, manchmal am Steuer eines Trucks. Meistens hat er ein
Mädchen dabei und sieht aus wie ein alter Mann.«
    Er lässt sich eine Weile über die Ungerechtigkeiten
der Gesellschaft aus. Er hat über frühere Erlebnisse
gesprochen und darüber, dass sie mit Reid alle Recht
behalten hätten, nicht aber mit Wilde. Wilde hätte sich
für Gerechtigkeit eingesetzt.
    Dieser Jonathan Wilde scheint eine mythische Person zu sein,
jemand, den Reid kannte und der ihm unterlegen ist und der,
ebenfalls im mythischen Sinn, eines Tages wiederkehren und die
Unterdrückten rächen könnte. Dee hat ihm
höflich zugehört und alles gespeichert, um das Material
später eingehender zu sichten. Sie behandelt es ebenso wie
irgendeinen gesellschaftlichen Anlass. Aber was er eben gesagt
hat, lässt sie aufhorchen.
    »Was soll das heißen, er sah aus wie ein alter
Mann?«, fragt sie.
    »Wie jemand, der sich vor der Stabilisierung nicht
verjüngt hat«, antwortet Ax respektlos. »Ein
erstaunlicher Anblick.«
    Dee denkt schaudernd daran, dass Menschen früher wie
schlecht gewartete Biotech auseinanderzufallen pflegten, bis sie
irgendwann einfach nicht mehr funktionierten. Schrecklich. Sie
hat sich mit Reid alte Filme angeschaut, die einen ganz anderen
Eindruck von der Erde geben als die historischen Romanzen.
Anschließend fällt es jedem schwer, glücklich zu
sein.
    »Ich habe kürzlich einen alten Mann gesehen«,
sagt sie. »Vor ein paar Wochen. Einen alten Mann mit einem
Mädchen, in einem Truck. Hat in Reids Büro angerufen
und gemeint, er habe sich verwählt.« Sie blickt Ax von
der Seite an. »Es gibt hier nicht viele alte Männer.
Könnte das Wilde gewesen sein?«
    Ax mustert sie skeptisch. »Wie sah der Typ
aus?«
    »Hm«, macht Dee. Sie schiebt die Unterlippe
über die Zähne hoch, dann wischte sie sich mit dem
Daumen über die Zähne und bemerkt den
Lippenstiftschmier.
    »Hast du was?«
    Dee bleibt unvermittelt stehen. »Ja.« Die
Erinnerung gehört zur Sekretärin, bringt aber auch
mehrere andere Identitäten zum Schwingen: All die neuen
Bewusstseine, die sie überspielt hat, sind diesem seltsamen
Mechanismus unterworfen, sind mit dem Gedächtnis und ihren
Stammverzeichnissen verknüpft.
    »Einen Augenblick«, sagt sie.
    Ein paar Meter weiter steht ein Poller. Sie geht hin und
lässt sich darauf nieder, nachdem sie sorgfältig den
schwarzen Spitzenrock hochgeschlagen hat, sodass sie auf dem
Poller sitzt und nicht auf dem Rock. Das Metall fühlt sich
durch das feine Leder, die dünne Seide und die nackte Haut
hindurch kalt an. Ax, der sie beobachtet hat, gibt ein
anerkennendes Stöhnen von sich, doch Dee hat bereits die
nüchterne Klarheit des Systems verinnerlicht.
    Wenn Dee im Ich-Modus ist, stellt sie sich Sys, das System,
als ›Sis‹, ›Schwester‹ vor, und

Weitere Kostenlose Bücher