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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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vollkommen anderen
Persönlichkeit. Bloß der Körper und das zugrunde
liegende Temperament, das, wie Dee weiß, ebenfalls
genetisch bedingt ist, sind gleich. Sie lässt die letzten
paar Seiten über das Foto fallen und starrt blicklos auf den
Titel auf der ersten Seite:
     
    Jonathan Wilde, 1953-2046:
Ein Leben am kritischen Punkt
von EON TALGARTH
     
    Ax geht unruhig im Zimmer auf und ab, ohne Dees
Verstörung zu beachten, und redet aufgeregt. Dee muss die
letzten paar Sekunden noch einmal ablaufen lassen, bis sie den
Anschluss gefunden hat: »Wir stehen vor einem
Rätsel«, sagt er gerade. »Vor zwei Wochen sieht
Wilde dich auf Reids Bildschirm. Er lässt sich nichts
anmerken, sondern überträgt an dich den Befehl,
Informationen zu laden, vielleicht mit der Absicht, dich
aufzuwecken, vielleicht nicht. Gestern taucht Wilde auf, nachdem
er sich in der Zwischenzeit offenbar verjüngt hat, sieht
dich und flippt aus.«
    Dee schüttelt den Kopf.
    »Der Typ im Pub war nicht der Mann, den ich auf dem
Monitor gesehen habe.«
    Ax runzelt die Stirn. »Du scheinst dir da ziemlich
sicher zu sein.«
    »Die Verjüngung macht die Erfahrungen nicht
ungeschehen. Man sieht sie einem immer noch an. Vielleicht nicht
auf einem Foto, aber spätestens dann, wenn man sieht, wie
sich jemand bewegt und wie er spricht, wird es
offensichtlich.« Sie lächelt. »Findest du nicht
auch?«
    »Hab noch nicht genug Verjüngte gesehen«,
erwidert Ax. »Das kommt nicht so häufig vor –
die meisten Leute stabilisieren sich in dem Alter, das sie
für das Beste halten.« Er lacht. »Manchmal ist
auch Altern in Mode, aber lange hält die nicht
vor.«
    »Ich werd dir was sagen«, meint Dee. »Der
Wilde, den ich vor zwei Wochen gesehen habe, lebt schon viel
länger als der Wilde von gestern Abend.«
    »Okay, nehmen wir mal an, es sind zwei. Das ist nicht
minder rätselhaft, als wenn es nur einen gäbe, denn
eigentlich sollte er gar nicht hier sein. Er hat weder zur
Mannschaft noch zu den Kriminellen gehört.« Er
lächelt diabolisch. »Das sagt Reid, oder jedenfalls
geht es aus den Listen hervor. Aus den Firmenunterlagen. Ich
hab’s nachgeprüft. Aber wie ich schon sagte, er wurde
angeblich gesehen. Und jetzt haben wir den Beweis. Er ist wieder
da!«
    Er nimmt erneut das Bild zur Hand, das Dee angefertigt hat.
Sie bemerkt, dass seine Hände zittern. Nach mehreren
Versuchen gelingt es ihm, sich eine Zigarette anzustecken, dann
blickt er eine Weile ins Leere. Sein Gesichtsausdruck
verändert sich allmählich, auf eine Weise, welche Dee
darauf schließen lässt, woher er seinen Namen hat:
Seine Miene wirkt hart, scharf und…
verhängnisvoll.
    »Weißt du, was das bedeutet?«, fragt er.
    Dee presst die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf.
    »Das bedeutet, er ist von den Toten wiederauferstanden«, sagt Ax. »Das bedeutet, alles
wird sich verändern. Das bedeutet, dass alles wieder offen
ist.«
    »Das begreife ich nicht«, sagt Dee.
    Ax drückt die Zigarette aus und steckt sich eine neue an.
Er zittert immer noch.
    »Menschen machen Annahmen«, sagt er. »Sie
glauben, es werde immer so weitergehen wie bisher. Sie wissen,
was sie sich erlauben können und was nicht. Sie wissen, wozu
sie andere Menschen bringen können. Zum Beispiel habe ich
meinen Körper von anderen Leuten missbrauchen lassen, weil
ich das Geld brauchte. Und das wussten sie. Aber weil ich
einverstanden war, glaubten sie, es wäre Recht. Einige
wussten sogar, dass es mir zuwider war. Aber ich war damit
einverstanden.«
    Auf einmal braucht auch Dee eine Zigarette. Sie zündet
sich eine an, und jetzt zittern auch ihre Hände.
    »Hat Reid dich jemals von anderen Leuten missbrauchen
lassen?«
    »Ach, nein«, antwortete Dee rasch. »Er ist
sehr besitzergreifend.«
    »Aber er hat dich benutzt«, beharrt Ax. »Ob
du wolltest oder nicht.«
    »Ich wollte immer«, versichert Dee, doch das sexy
Lächeln ihrer Geschlechtsidentität verbirgt den neu
erwachten und bohrenden Zweifel, wie viel ihr Einverständnis
im Rückblick wert gewesen sein mag. Ax beobachtet sie, und
er sieht, wie ihr Zweifel wächst.
    Er öffnet eine Schublade und langt hinein, holt ein
Messer heraus. Es ist kein Küchenmesser. Es hat einen
schwarzen Holzgriff, ein Stichblatt aus Messing und eine
dreißig Zentimeter lange Klinge. Beinahe beiläufig
rammt Ax die Spitze in die Tischplatte und lässt den Griff
los, sodass das Messer hin und her vibriert.
    »Jetzt

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