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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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zusammengesetzt
hat; es ähnelt beinahe einem Schwarzweißfoto, man
sieht das Gesicht des Mannes und die Umgebung: die Sitzlehne
hinter ihm, die gerillte Verkleidung der Fahrerkabine, das
Spiralkabel des Mikrofons in seiner Hand, die Schulter des
Mädchens.
    »Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagt Ax.
»Das ist er. Das ist der Typ, von dem ich gesprochen habe:
Jonathan Wilde.«
    »Tja«, meint Dee, »ich hab ja gesagt, er
wäre kein vollkommener Meister.«
    Ax grinst sie an, als wäre selbst er von ihrer
Schlagfertigkeit überrascht (ach, wie weh tut doch dieses
Erstaunen!), und zieht ein altes Buch aus einem der Stapel in der
Ecke hervor. Der Ledereinband umschließt Ausdrucke auf
Algen-Cellulose-Papier. Dee wiegt das Buch in der Hand und
blättert darin. Die erste Seite, die sie aufschlägt,
befindet sich nahe dem Ende; es handelt sich um das Foto des
Mannes, den sie eben gezeichnet hat. Selbst seine Haltung und
sein Gesichtsausdruck ähneln dem Bild – er hat sich
vorgebeugt und spricht ernsthaft in die Kamera.
    »Das ist eine der letzten Aufnahmen von Wilde, die an
die Öffentlichkeit gelangten«, erklärt Ax.
»Es wurde bei einem Fernsehinterview im Februar 2046
aufgezeichnet.«
    Dee sträuben sich die Nackenhaare, als sie das Bild
betrachtet, das aus einer beinahe unermesslich fernen
Vergangenheit stammt (jedoch bloß in Realzeit gerechnet, erinnert sie der Wissenschaftler, nicht in Bordzeit; und dann lässt er sich wieder über das
Malley Mile aus – über das reale Phänomen, nach
dem der Pub benannt ist. Sie schaltet ihn aus).
    »Ja, das ist er«, sagt sie. Sie blickt von ihrer
Zeichnung zum Foto im Buch, führt eine Transformation durch.
»Jede einzelne Falte stimmt überein.«
    Sie schaut wieder Ax an. Irgendetwas stört sie.
    »Tja, so sieht es aus«, sagt Ax.
    Dee blättert wieder im Buch. Je weiter nach vorne sie
kommt, desto seltener werden die Abbildungen. Wilde wird
jünger; die meisten Fotos sind offenbar nicht gestellt,
sondern Schnappschüsse: Ausschnittsvergrößerungen
von Überwachungskameras, ein ruhiges Gesicht inmitten einer
aufgebrachten Menge…
    »Was ist das eigentlich?«
    »Das ist ein Dossier über Wilde«, antwortet
Ax. »Notizen für eine Biographie.«
    Sie verharrt bei einem anderen Foto, einer unscharfen
Teleaufnahme. Darunter steht ›FOI
(PrevGovts)/SB/08-95‹. Zwei Männer an einem Tisch, in
einem Pub oder einem Café. Der eine, in der
Bildunterschrift als Wilde bezeichnet, wendet der Kamera den
Rücken zu. Der andere, der eine Zigarette in der Hand
hält, ist Reid.
    »Hab’s dir ja gesagt«, meint Ax. »Sie
kennen sich seit Jahren.«
    Im Grunde hat Dee schon lange gewusst, dass Reid eines der
Originale ist, dass er leibhaftig von der Erde hergekommen ist,
doch es ist trotzdem schockierend, den visuellen Beweis vor sich
zu sehen – vorausgesetzt, Alter und Herkunft des Bildes
stimmen. Sie blättert weiter vor. Als der Papierstapel unter
ihrem Daumen dünn wird, stößt sie auf ein
scharfes, professionelles Foto, das ihre Gedankengänge
unterbricht. Es ist mit der Schere ausgeschnitten, und die
Bildunterschrift lautet: Dumbarton Gazette 04/06/77
– womit offenbar eine Lokalzeitung gemeint ist. Sie
starrt das Foto an, zeigt benommen darauf. Ax atmet hinter ihrer
Schulter zischend durch die Zähne.
    Ein Hochzeitsfoto: festliche Kleidung, lässige Haltung,
beinahe Wange an Wange. Jetzt, da die Kontinuität
hergestellt ist, erkennt sie, dass dies die jüngere Ausgabe
des alten Mannes am Ende des Buches ist; das ist der Mann, den
sie gestern gesehen hat. Das Gesicht der Frau über den
rüschenumhüllten Schultern und dem hohen Kragen im
spitzenbesetzten weißen Voile ist ihr eigenes.
     
    »Lass mich mal raten«, sagt Ax langsam. »Das
ist der Kerl, der ins Malley Mile reinstolziert kam?«
    »Ja«, flüstert sie. »Kein Wunder, dass
er mich erkannt zu haben schien. Ich bin ein Klon – ein
Klon seiner Frau!«
    »Unheimlich«, sagt Ax. Er beugt sich auf die
Unterschrift hinunter. »Annette hat sie
geheißen.«
    Dee kann das Foto nicht länger anschauen und braucht es
auch nicht: Dieses Bild wird ihr ewig im Gedächtnis haften,
vorausgesetzt, sie löscht es nicht. Es ist unheimlich, das
stimmt, und auf einer tieferen Ebene verstörend: Dieser
ferne Zwilling, diese Frau, deren körperliches Gespenst Dee
ist, wirkt auf eine Weise glücklich, wie Dee es nie gewesen
ist, und dieses Glück ist Ausdruck einer

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