Die Mars-Stadt
Organisationen bis zu einer Art globalem
Drahtzieher, dem eine dankbare Menschheit irgendwann Statuen auf
den Monden des Saturn errichten würde.)
Heute hatte ich ernsthaftere Pläne. Ich fand im Filofax
eine alte (durchgestrichene) Adresse von Reid und in einem von
Annettes Tagebüchern eine aktuelle. Ich arbeitete mich durch
sämtliche marktwirtschaftlichen, liberalen,
anti-umweltschützerischen oder auch schlichtweg rechten
Organisationen hindurch, mit denen ich jemals in Kontakt
gestanden hatte, und meldete Reid schriftlich oder telefonisch
für ihre Rundschreiben an. Nach etwa einer Stunde war das
geschafft, doch ich war immer noch nicht zufrieden und machte
mich daran, noch ein paar weitere Ansatzpunkte ausfindig zu
machen.
Ich drückte auf den Klingelknopf des
Freidenker-Büros in der Holloway Road. Hinter mir rumpelte
der Verkehr vorbei. Das verstaubte Schaufenster mit den von der
Sonne gebleichten, von der Feuchtigkeit eingedunkelten
Büchern und Pamphleten fand ich so bedrückend wie eh
und je. Nach einer Weile ließ mich der Sekretär der
Gesellschaft ein. Ein hagerer Mann in mittleren Jahren, mit einem
faltenzerfurchten Gesicht und großen Augen hinter dicken
Brillengläsern. Freundlich und selbstlos und so arm wie eine
atheistische Kirchenmaus. Ich nannte ihm meine Wünsche, und
er ließ mich gewähren und beschäftigte sich mit
seinem Frühstück, während ich mich durch
Aktenordner hindurcharbeitete, Zeitschriftenstapel durchsah und
mir an den Karteikästen mit den sorgfältig
angefertigten etikettengroßen Adressschablonen die Finger
mit Tinte beschmierte.
Ich brauchte nicht lange, um eine Liste von überwiegend
amerikanischen Journalen und Organisationen zusammenzustellen,
die bestens geeignet waren, ein paar freie Gedanken anzuregen.
Zum Dank erstand ich beim Hinausgehen zum vollen Preis eine stark
angestaubte Ausgabe der Werke Thomas Paines. Ich blätterte
darin, während ich mit dem Bus eine ideologische Rundreise
durch London machte, vom Freiheitsbuchladen in der Angel Alley
und dem Market Bookshop in Covent Garden bis zur
Novosti-Presseagentur in Kensington und zurück über
Bookmarks in Finsbury bis zu Eleanors Schule, wo der Unterricht
meiner Tochter soeben geendet hatte.
Dies sind die Zeiten, da die Seelen der Menschen in
Versuchung geraten… Der Sommersoldat und der
Schönwetterpatriot mögen vor dem Dienst am Vaterland
zurückschrecken…
Reid und unglücklich? Auf mich hatte er nicht den
Eindruck gemacht, abgesehen von dem Moment, als wir über
Gewerkschaftsversammlungen gesprochen hatten. Im Rückblick
meinte ich in seinen Augen eine verzweifelte Erinnerung an
vergeudete Abende zu erkennen und die Vorahnung, dass weitere
folgen würden. Wenn er meine Frau ficken und mein Leben
ruinieren wollte, konnte ich zumindest versuchen, ihn
gehörig zu verarschen. Reid war besessen von seinen
politischen Vorstellungen; er hatte Zahnräder im Kopf. Er identifizierte sich viel stärker mit seinen
Überzeugungen als ich mit den meinen. Es machte ihm keinen
Spaß, sich ideologischen Herausforderungen zu stellen, doch
wenn ein paar Sandkörner in sein kompliziertes
Räderwerk gerieten, scheute er keine Mühe, sie wieder
zu entfernen, die Zahnräder zu säubern und zu polieren
und kaputte Zähne zu ersetzen. Einmal hatte er mir die halbe
Nacht lang die Feinheiten einer absurden Debatte der Vierten
Internationalen aus den frühen Achtzigerjahren um die Ohren
gehauen: Es ging darum, ob Pol Pots Demokratisches Kampuchea eine
Variante des Kapitalismus (!) sei oder nicht.
›Dickköpfig und aufrichtig und so verflucht ernsthaft… ‹ – Annette hatte ihn
durchschaut. Und ich auch. Reid würde nichts anderes
übrig bleiben, als sämtliche politischen Schriften, die
in seinem Briefkasten landeten, zur Kenntnis zu nehmen. Er
würde sich selbst mit den offensichtlichsten
Absurditäten abplagen, jedem lästigen Scheinargument
und jeder dreisten Lüge nachgehen. Wenn er sich durch all
diese einander widersprechenden Ansichten hindurchgearbeitet
hätte, würde seine Seele wahrhaft in Versuchung geraten
sein…
Andere Straßen, andere Sommer… Wir begegneten
Reid auf Demonstrationen gegen die Wahlsteuer und die Apartheid.
Im schwarzen Juni ’89 setzten wir uns zusammen mit
Tausenden Chinesen und Hunderten Trotzkisten auf die eine
Straße in Soho und sangen die Internationale, und er nickte
und wirkte nahezu besorgt, als ich ihm
Weitere Kostenlose Bücher