Die Mars-Stadt
tatsächlich gleicht es einer großen Schwester (wie Dee
sie sich vorstellt): Es weiß alles, verbessert sie, schafft
hinter ihr Ordnung, hebt die abgelegten Kostüme ihrer rasch
wechselnden Ichs auf und räumt sie weg. Sie geht nicht oft
ins System und hält sich nie lange in dieser dünnen,
kalten Luft auf.
Jetzt nimmt ihr kaltes inneres Auge die Hierarchie ihrer Ichs,
ihre Bewusstseine und Werkzeuge in sich auf, ihre gemeinsamen
Strukturen und die unaufhörliche Aktivität des Systems,
das sie zu einer Person verschmilzt, damit sie nicht miteinander
um die Kontrolle über ihren Körper streiten. Sie
spürt der Erinnerung an den Anruf nach, wie er von der
Sekretärin über das Ich zum System weitergeleitet
wurde, und dann sieht sie seine weitere kaskadenartige
Verbreitung aus der Zeit, als sie die Zusatzsoftware geladen hat:
den Wissenschaftler, den Soldaten, den Spion, den
Majordomus… bis zu den gespeicherten Geheimnissen, die auf
einem eigenen Ast verborgen sind. Dazu hat sie keinen Zugang.
Trotzdem waren sie immer gegenwärtig, und nun werden sie
systematisch belagert von den geduldigen, geistlosen Subroutinen
des Systems, die wie einen Virus angreifende Antikörper Code
für Code knacken.
Sie fällt wieder in den Ich-Modus zurück. Ax mustert
sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis.
»Also so ist es abgelaufen«, sagt sie und erhebt
sich.
»Was meinst du?«
»So wurde ich ich selbst. Der Anruf war der
Auslöser. Darin war ein Befehlscode verborgen. Er befahl
mir, Programme zu laden, zu suchen und… und ich gehorchte,
und als ich genügend Bewusstseine und Daten und so weiter im
Kopf hatte, da passierte es! Ich erwachte!« Sie lacht
kokett auf. »Ist das bei euch auch so? Sammelt ihr auch
erst mehrere Ichs, bis euer Bewusstsein erwacht?«
»So viel ich weiß«, antwortet Ax ernsthaft,
»nein. Das menschliche Bewusstsein entsteht anders. Und
zwar schon in früher Kindheit.«
Er schüttelt sich. »Du willst mir also
erzählen, dein Bewusstsein sei aufgrund des Anrufs eines
alten Mannes erwacht?«
»Ja.«
»He, Mann, das ist cool! Das ist wie Zen! Vielleicht war
das wirklich Wilde, oder aber ein vollkommener
Meister.«
Er fasst sie bei der Hand und zieht sie mit sich. Sie folgt
ihm, durchsucht ihr Gehirn nach einem Hinweis auf den Begriff
›vollkommener Meister‹. Der Wissenschaftler hat
eine herablassende Erklärung auf Lager, und sein
Hohngelächter verklingt gerade in ihrem Geist, als Ax
aufgeregt fragt:
»Kannst du zeichnen?«
»Ich kann Bilder anfertigen«, antwortet Dee.
»Aber ich glaube nicht, dass er ein vollkommener Meister
war. Das Mädchen in seiner Begleitung sah nicht so aus, als
hätte sie Erleuchtung nötig.«
»Zen«, meint Ax und nickt. »Ganz
eindeutig.«
Im Untergeschoss des Hauses befindet sich ein großer
Raum mit Küchenzeile und Spüle, Sofas und Sesseln und
einem schweren, blankgescheuerten Holztisch. In den Ecken und auf
dem Tisch sind Bücher, Papiere und allerlei Geräte
gestapelt. Dee nimmt am Tisch Platz, räumt zwischen Tassen
und Werkzeug etwas Platz frei.
Ax kramt ein paar Blätter und einen Kugelschreiber hervor
und reicht ihn ihr.
»Zeichne ein Bild«, fordert er sie auf.
»Ist gut«, sagt Dee. Sie nimmt den Kugelschreiber
in die Rechte und glättet mit der Linken das Papier. Ein
rascher Kringel in der rechten oberen Ecke des Blatts, und sie
weiß, dass die Tinte schwarz ist und nicht kleckst. Mit
geschlossenen Augen vergegenwärtigt sie sich den Mann im
Truck. Das Mädchen lässt sie einstweilen außer
Acht (wenngleich ihre Augen etwas an sich haben, das Dee seltsam
vorkommt und eingehender untersucht werden sollte – weitere
Nachforschungen, okay, Übergabe an den Wissenschaftler). Ja.
Archiv an Druckerkontrolle: eine kleine Routine aus dem
Repertoire der Sekretärin.
Start. Eine Weile hört sie das kratzende Geräusch
des Kugelschreibers auf dem Papier, während ihre Hand
horizontal hin und her flitzt, mit kaum merklichen vertikalen
Bewegungen den Stift anhebt und wieder aufs Papier setzt; und
dann schiebt ihre Linke das Papier ganz langsam weg. Fertig.
Sie öffnet wieder die Augen. »Hier«, sagt
sie. Sie reibt sich das Handgelenk.
Ax starrt sie mit offenem Mund an. Er schließt den Mund
und schüttelt den Kopf.
»Okay«, sagt er. »Sehen wir’s uns mal
an.«
Auch Dee wundert sich ein wenig darüber, wie gut das Bild
ist, das sie aus ein paar hundert geraden Linien
Weitere Kostenlose Bücher