Die Maschen des Schicksals (German Edition)
Minuten fertig zum Gehen.“
Courtney starrte verständnislos vor sich hin. Dann dämmerte ihr, dass Vera beabsichtigte, sie mitzunehmen, welches Ziel sie auch immer haben mochte. „Es ist erst halb sechs.“
Ihre Großmutter sah zu ihr hoch. „Ich weiß, wie spät es ist. Schließlich will ich um sechs im Schwimmbad sein, wenn es öffnet.“
„Oh.“ Das war schrecklich. Sicher, sie hatten übers Schwimmen gesprochen. Aber Courtney war nicht klar gewesen, dass sie dafür zu einer so unchristlichen Stunde aufstehen musste. Im Grunde hatte sie dieses ganze unangenehme Gespräch mehr oder weniger verdrängt. Ihre Großmutter war der Meinung, Courtney sollte anfangen, sich sportlich zu betätigen, wenn sie abnehmen wollte. Ganz vage erinnerte sie sich, gesagt zu haben, dass sie es ja mal versuchen könnte, hauptsächlich, um ihrer Großmutter einen Gefallen zu tun.
Plötzlich in Eile, zerrte Courtney ihren Badeanzug aus der untersten Schublade und hoffte, dass er noch passte. Eine Menge ihrer Klamotten taten es nicht mehr, und sie musste sich immer mächtig verrenken, um den Reißverschluss ihrer Jeans hochzuziehen. Die meisten Blusen konnte sie nicht mehr richtig zuknöpfen, weil sie so spannten, deshalb trug sie sie offen über einem Top. Aber bei einer Jeans war es nicht so einfach zu verbergen, dass sie stark zugenommen hatte. Die Nähte drohten schon aufzureißen.
„Ich habe ein Handtuch für dich“, kam die Stimme ihrer Großmutter wieder von unten. „Nimm bitte keins aus dem Badezimmer. Die gehören nämlich zu einem Set.“
„In Ordnung!“, rief Courtney zurück. Sie stieg aus ihrem Pyjama und zog sich den Einteiler an. Er passte, wenn auch nur knapp. Der Stolz gebot ihr, nicht in den Spiegel zu sehen. Ein Trost war, dass sie so früh am Morgen im Schwimmbad sicher niemandem in ihrem Alter begegnen würde. Sie warf sich ein T-Shirt und Jogginghosen über, schlüpfte in ein Paar Flip-Flops und trottete die Stufen hinunter.
Ihre Großmutter wartete an der Tür und reichte ihr ein Handtuch, eine rosa Badekappe und eine Schwimmbrille.
„Die ist alt“, sagte sie mit Blick auf die Schwimmbrille, „aber es wird schon gehen, bis wir eine neue für dich gekauft haben.“
„Du bist wirklich gut vorbereitet, was?“ Tatsächlich war Courtney beeindruckt. Sie hatte nicht gewusst, dass Leute, die so alt waren wie ihre Großmutter, auch schwimmen gingen.
Noch mehr Überraschungen erwarteten sie. Das Schwimmbecken mit seinen olympischen Ausmaßen befand sich in der Highschool. Die Badezeit für Erwachsene war jeden Morgen von sechs bis halb acht. In der Eingangshalle hatte sich eine Gruppe älterer Menschen versammelt, die sich alle zu kennen schienen.
Courtney ging mit ihrer Großmutter hinein, und sie wurden von allen herzlich begrüßt. Vera stellte ihre Enkelin ausnahmslos allen Schwimmkameraden vor. Dutzende von Namen wurden ihr so schnell entgegengeschleudert, dass sie kaum hoffen konnte, jeden zu behalten. Aber sie gab sich alle Mühe. Soweit es ihr gelang, versuchte sie sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Die Sonne war jetzt vielleicht schon wach, aber doch kein vernünftiger Mensch, wie Courtney fand.
„Und wie gefällt dir denn das Leben in Seattle?“, erkundigte sich eine von Veras Freundinnen.
Courtney glaubte, sich zu erinnern, dass sie Leta hieß. „Ach, sehr gut“, erwiderte sie so begeistert, wie sie konnte. Na ja, es könnte tatsächlich auch so sein, wenn sie jemandem begegnete, der jünger als achtzig war. Dieses ganze Strickding hatte sich als eine absolute Enttäuschung entpuppt. Erst Mal war sie überrascht gewesen, dass der Kurs aus drei Leuten bestand und nur noch zwei andere Frauen teilnahmen, die beide so viel älter waren als sie. Eine schien ungefähr so alt zu sein wie ihre Großmutter und war eine echte Schreckschraube. Sie sah aus, als hätte sie den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, in Zitronen zu beißen. Die andere Frau war wahrscheinlich etwa im gleichen Alter wie ihre Mutter – wenn ihre Mutter noch gelebt hätte.
Plötzlich zog sich ihr bei dem Gedanken an ihre Mutter der Magen zusammen. Es sollte inzwischen nicht mehr so wehtun, aber das tat es noch immer. Courtneys Geschwister schienen mit dem Verlust so viel besser klarzukommen als sie selbst. Niemand wollte mehr über Mom reden, und Courtney kam es so vor, als sollte sie vergessen, jemals eine Mutter gehabt zu haben. Das konnte und wollte sie aber nicht.
Julianna, ihre Schwester, hatte
Weitere Kostenlose Bücher