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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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Fackeln an der Mauer angebracht, so daß die Leute uns von Licht umrahmt sehen würden – Geschöpfe aus Flammen. Das war Martins Einfall gewesen. Im Augenblick waren nur zwei Fackeln angezündet, an der Mauer in der Mitte der Bühnenfläche. Der Baum des Schicksals stand bei der Mauer, und an einem seiner Zweige hing ein Apfel aus Papier. Wir mußten den Schuppen als Garderobe benutzen und würden daher im Laufe der Vorstellung immer wieder durch die Reihen des Publikums hindurchgehen müssen. Als alles bereit war, kam Martin als Adam zwischen den Leuten hervor, um den Prolog zu sprechen. Er schritt heran und stand da, die zwei brennenden Fackeln direkt hinter sich. Über seiner Kleidung trug er einen schwarzen Umhang. Während wir im Schuppen warteten, vernahmen wir seine klare Stimme:
  »Ich bitt’ Euch, schenkt mir Aug’ und Ohren
      Und seht, wie Eden ward verloren
      Durch des Satans Trug und List …« 
    Ich spähte um die Tür des Schuppens herum und beobachtete Martin, wie er dastand, die flackernden Flammen im Rücken. Vom Publikum erklangen Gespräche und Gelächter, aber nicht sehr viel. Die Leute waren nicht gerade in großer Zahl erschienen, das sah man auf den ersten Blick; der Hof war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Ich trug das Kostüm für die erste meiner Rollen, die eines Hilfsdämons: eine gehörnte Maske, eine rote, gegürtete Hemdbluse sowie einen Schwanz, ein Stück Seil mit einem Dorn aus Eisen am Ende. Ich hatte einen Teufelsdreizack bei mir, der dazu diente, die Verdammten auf dem Höllenrost zu drehen. In diesem ersten Teil des Stückes brauchte ich kein einziges Wort zu sprechen; ich mußte nur Satan zur Hand gehen und Vorstöße ins Publikum unternehmen und dabei zischen und mit meinem Dreizack fuchteln, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich hielt das für einen glücklichen Umstand, da ich mich auf diese Weise daran gewöhnen konnte, den Blicken des Publikums ausgesetzt zu sein, bevor meine bedeutsamere Rolle als Teufelsnarr an der Reihe war.
       Nachdem Martin seine Verse gesprochen hatte, trat er rasch aus dem Licht, huschte zur entferntesten Ecke der Bühnenfläche und legte sich dort nieder. Von seinem dunklen Umhang bedeckt, daß selbst das Gesicht verborgen war, schien er wahrhaftig zu verschwinden. Auch dies war seine Idee gewesen; es war ihm eingefallen, als wir zum erstenmal gesehen hatten, wie die Fackeln in die Halterungen in der Mauer gesteckt worden waren. Was wirkungsvolle Effekte betraf, war Martin höchst einfallsreich und den anderen immer ein Stückchen voraus.
       Jetzt war es an der Zeit für Stephen, als Gottvater in Erscheinung zu treten und langsam und majestätisch durch die Reihen der Zuschauer zu schreiten. Um die Wirkung seines Auftritts zu steigern, ging er auf sechs Zoll hohen Stelzen, die unter seinem Gewand an den Beinen festgeschnallt waren. Des schwankenden Gangs wegen hat das Schreiten eines Stelzengehers etwas Majestätisches an sich; es strahlt irgend etwas Steifes, Gemessenes aus, so, wie Gott vermutlich unter den Menschen daherschreiten würde, der streitsüchtige Stephen sah mit seiner vergoldeten Maske und seiner dreifachen Krone wahrhaftig wie der König des Himmels aus, während er vom Licht zum Dunkel schritt und wieder zurück, wobei er seinen Monolog sprach:
 »Ich, Gott, in meiner großen Herrlichkeit,
     In dem kein Anfang ist, kein Ende dräut,
     Der ewig war und ist für alle Zeit,
     Schöpfer des Himmels und der Erde weit,
      Gebiete nun, es werde Licht …« 
    Nun war Tobias an der Reihe. In seiner ersten Rolle als Hilfsengel, mit der Perücke, der Halbmaske und den Flügeln, die er sich vorübergehend von der Schlange geliehen hatte, kam er mit einer Flamme durch die Reihen des Publikums hindurch und entzündete sämtliche Fackeln an der Mauer, so daß sich eine Flut von Licht über alles und jeden ergoß. Gott schritt nunmehr im Licht seiner Schöpfung dahin, und in der Ecke konnte man einen dunklen Haufen sehen: Adam.
 »Erschaffen sei der Mensch nach unserm Bilde,
 Mit Leib und Seel’ von unserm Odem milde;
 Über die Tiere alle, zahm’ und wilde,
 Er der Herrscher sei …« 
    Adam kroch unter seinem Umhang hervor und rieb sich die Augen. Man sah seine wohlgeformten Beine, die allerdings von einer Gänsehaut überzogen waren. Und jetzt erschien Straw in Gestalt der Schlange vor der Verdammnis – mit den Flügeln, die er in aller Hast von Tobias übernommen hatte, und einer runden, lächelnden

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