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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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sonderbar und beängstigend vor, daß irgend jemand im Dunkel der Nacht den Leichnam des Jungen ins Grab gesenkt und ihn mit Erde bedeckt hatte, während wir in dieser Stadt eingetroffen waren oder während unserer Prozession durch die Straßen oder später, während unserer Aufführung des Stücks von Adam – und wir hatten die ganze Zeit nichts davon gewußt. Alles war in größter Eile geschehen; Thomas Wells’ Leiche war kaum zwei Tage über der Erde gewesen. Wer hatte sie überhaupt zu sehen bekommen? Der Mörder. Und Flint. Und der Verwalter des Barons. Und gewiß hatte auch die Mutter den Leichnam gesehen …
       »Der Totengräber hat mir noch was erzählt.« In der typischen Art des Betrunkenen bewegte Stephen die Zunge im Mund. »In den letzten zwölf Monaten sind vier Jungen aus dieser Stadt und der Umgebung verschwunden. « Er hielt inne, stierte vor sich hin und bewegte dann wieder langsam die Zunge im Mund. »Vier, die man hier kennt und deren Namen man weiß.« Er beugte sich vor und machte die Geste, mit der ein Redner eine bedeutsame Feststellung unterstreicht: Der rechte Arm wird nach vorn gestreckt und dann mit schnellem Schwung von links nach rechts quer über den Körper bewegt. »Davor nichts dergleichen.«
       Für kurze Zeit herrschte Schweigen unter uns. Genau wie damals, als Martin zum erstenmal davon gesprochen hatte, aus diesem Mord ein Stück zu machen, schien sich eine Stille auf uns niederzusenken, in der sonst leise Geräusche lauter klangen: die Bewegungen irgendwelcher kleiner Tiere im Stroh und das Atmen des Hundes, der auf Tobias’ Beinen lag und döste. Dann beugte Springer sich ins Licht vor. »Verschwunden? « fragte er. »Wie verschwunden?«
       »Von der Bildfläche«, sagte Stephen, und seine Zunge war jetzt noch schwerer; zur Trunkenheit gesellte sich die Müdigkeit. Er hob die Hände in der Geste für ›Zauberei‹, doch er machte seine Sache schlecht; seine Bewegungen waren schwerfällig.
       »Das werden die sein, von denen der Bettler sprach«, sagte ich. »Und wir dachten, er würde bloß irgendwelchen Unsinn plappern.«
       »Aber dieser Junge hier wurde gefunden«, sagte Martin. »Dieser hier wurde ermordet, und ihm wurde die Geldbörse weggenommen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen uns überlegen, wie wir es spielen, wie wir zeigen können, daß die Frau unschuldig ist.«
       Er wollte nicht, daß wir abgelenkt wurden; er wollte, daß wir über diesen einen Jungen nachdachten, über dieses eine Stück; er wollte, daß wir ihm halfen, die Frau zu retten. Und die Kraft seines Wunsches übertrug sich auf uns – wie auch sein unbeugsames Verlangen nach der Frau, das wie eine Krankheit über ihn gekommen war.
      Also sprachen wir darüber, wie wir das Stück aufführen konnten. Es blieb nur noch wenig Zeit, sowohl für die Besprechung als auch zum Proben. Es wurde beschlossen, auf die gleiche Weise zu beginnen wie beim ersten Mal und dann auch so fortzufahren – bis zu jener Szene, in der die Frau, die auch diesmal von Straw gespielt werden sollte, zur Dämonenmaske wechselte. In diesem Augenblick, da die Schuld der Frau unzweifelhaft festzustehen schien, würde die Wahrheit eingreifen, die Handlung unterbrechen und die Schauspieler befragen, die antworten konnten, was ihnen gerade einfiel, wobei ihre Antworten jedoch auf den Benediktiner hinweisen mußten. In einer dritten Szene, während die Wahrheit noch zugegen war, würden Martin als der Mönch und Springer als Thomas Wells die wahre Geschichte als Gebärdenspiel aufführen. Tobias und ich würden dieselben Rollen übernehmen wie zuvor. So blieb nur Stephen, die Rolle der Wahrheit zu spielen.
       Was das betraf, hatten einige von uns ihre Zweifel, ob er die richtige Wahl war; nicht, weil Stephen betrunken war – wie es schien, spielte er in diesem Zustand häufig seine gewohnten Rollen: Gottvater, den König von Persien oder den Papst; seiner majestätischen Ausstrahlung war die Trunkenheit eher förderlich als abträglich. Zudem konnte er sich auch in diesem Zustand an seinen Text erinnern. Doch wir hatten Bedenken, ob es ihm nicht bei unvorbereiteten Fragen an der raschen Auffassungsgabe mangeln könnte, ganz gleich, ob er betrunken oder nüchtern war, und wir befürchteten, er würde dieser Aufgabe nicht gewachsen sein. Stephen allerdings versicherte lauthals, das sei überhaupt kein Problem für ihn, und da Tobias nun einmal nicht die Statur dafür besaß, sah keiner von uns eine

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