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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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– wenngleich wir die Hoffnung als vergebens ansahen. Doch keiner von uns wußte, wie weit Martin gehen würde, um sie vor dem Tod zu bewahren; und was er an diesem Abend zu sagen und zu tun gedachte, konnten sich nicht einmal jene vorstellen, die am längsten bei ihm waren und die Widersprüche seines Charakters am besten kannten.
       In der neuen Fassung des Stückes fiel mir wieder die Rolle des Guten Rats zu. Wie zuvor sollte ich dem Jungen eine kleine Moralpredigt mit auf den Weg geben, und ich hielt mich in meiner Priesterkleidung und dem schwarzen Hut für den Auftritt bereit. Ich spähte durch einen Spalt im Vorhang und beobachtete, wie die Leute durch das Tor kamen. Stephen rief noch immer das Schauspiel aus, und Margaret kassierte das Geld ein; neben ihr stand ein Bediensteter des Wirts, der jede Bewegung ihrer Hände genau im Auge behielt. In gewisser Weise war es nützlich, daß der Bursche dort stand, denn er kannte jene Leute, die geschäftlich im Wirtshaus zu tun hatten, wie auch jene, die solches nur von sich behaupteten, weil sie sich um das Bezahlen drücken wollten. Außerdem ließ er die stadtbekannten Unruhestifter und die offensichtlich Betrunkenen nicht durch, was Margaret vielleicht nicht so gut gekonnt hätte.
       So kamen die Leute in gesitteter Manier auf den Hof. Zwar herrschte eine erwartungsvolle Atmosphäre, doch war es nicht ganz das übliche Vorgefühl eines gespannten Publikums. Es war vielmehr so, als würden die Leute sich zu einer Versammlung treffen, bei der von jedem erwartet wurde, daß er seine Rolle spielte.
       »Die Zuschauer sind zu ruhig«, sagte Straw. Er trug bereits die Haube und das gepolsterte Kleid der Mutter des Jungen. Springer stand neben ihm, in der tristen braunen Kleidung des Thomas Wells. »Die Leute kommen auf den Hof«, fuhr Straw fort, »als wär’ es eine Kirche.«
       »Wenn Stephen für die Szene in der Schenke zur Stelle sein will«, sagte ich, »müßte er schon längst hier sein.«
       Wir alle waren nervös, und die Unruhe äußerte sich bei jedem anders. Dann trat Martin nach vorn, um den Prolog zu sprechen. Er trug noch seine normale Kleidung und war ohne Maske. Für die Aufführung hatte er einen neuen Text verfaßt, ohne einem von uns zu sagen, wie die Zeilen lauteten. Wahrscheinlich erkannte ich erst in diesem Augenblick, da Martins neue Verse über den Hof klangen, worauf wir uns eingelassen hatten.
 »Hört, Ihr Leute, und laßt Euch sagen,
     Wie der Mord sich wirklich zugetragen
    , Bei dem für jeden bewiesen schien
     Daß ein Weib die Täterin …« 
    Jetzt aber blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken. Außer für die Aufführung blieb für nichts anderes mehr Zeit. Wir begannen genauso wie beim erstenmal mit der Übergabe des Geldes an den Jungen und seinem Aufbruch nach Hause. Allerdings hatte der Gute Rat diesmal etwas mehr zu tun. Auf Martins Anweisung nahm meine Ermahnungsrede mehr Zeit in Anspruch als bei der ersten Aufführung. »Jetzt, wo der Ausgang der Sache zweifelhaft ist«, sagte er, »werden die Leute gespannter auf das Stück sein, wenn man sie warten läßt.«
       So war nun auch Tobias, in einer Dämonenmaske und mit einem Stecken, an dessen einem Ende eine aufgeblasene Schweinsblase befestigt war, Teil dieser Szene. Thomas Wells hörte mir aufmerksam zu und nickte und schien sich durch meine Worte überzeugen zu lassen. Doch immer wieder schlich der Dämon sich an mich heran und stieß mich mit der Blase, wodurch ich abgelenkt wurde, weil ich mich an die Verfolgung des Dämons machte, derweil die Frau ihr Gebärdenspiel der Lustbarkeiten vollführte, und Thomas Wells machte ein paar Schritte auf sie zu, bis weitere Ermahnungen durch meine Wenigkeit ihn wieder zurückriefen. Das Ganze ergab ein sehr wirkungsvolles Spiel von Bewegungen und Gesten und rief beim Publikum Gelächter hervor, was eine höchst willkommene Sache sein kann, wenn das Lachen die gelangweilte oder teilnahmslose Stille im Publikum durchbricht, doch auch beängstigend, wenn viele Leute auf einmal lachen – dann ist dieses Lachen ein Meer mit seltsamen Gezeiten. Die Schauspieler schwimmen im Wechsel des Ansteigens und Absinkens der Flut, und wenn sie die Kontrolle verlieren, ertrinken sie.
       Das Gelächter, das ich nun vernahm, klang nah und fern zugleich, wie das Rauschen einer Muschel, die man sich ans Ohr hält. Ich bewegte mich vor den Zuschauern und versuchte, meine Rolle zu spielen. Doch ich fühlte mich irgendwie unsicher und

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