Die Masken der Wahrheit
andere Lösung.
»Wir werden tun, was wir können«, sagte Martin. »Morgen dürften wir unsere Rollen schon besser beherrschen; denn wir werden sie lernen, indem wir …«
»Wir werden morgen nicht mehr hier sein.« Stephens Stimme klang laut in dem beengten Schuppen. »Morgen um diese Zeit sind wir schon ein gutes Stück weiter auf dem Weg nach Durham.«
»Ja, es ist zu gefährlich«, stimmte Tobias zu. »Der Beichtvater des Barons, der Verwalter des Barons … falls das Mädchen den Jungen nicht umgebracht hat, ist der wirkliche Täter noch auf freiem Fuß. Ich habe immer stärker das Gefühl, daß er beschützt wird …« Er schaute zu Martin hinüber, und wieder lag ein Anflug von Mitleid in seinem Blick. »Wir haben uns ja nicht aufgemacht, das Mädchen zu retten. Du hast dir diese Idee in den Kopf gesetzt.«
»Ja, du, Martin.« Wie immer ließ Straw sich vom allgemeinen Strom der Gefühle und Meinungen mitreißen. »Immer wenn du irgendwas von uns willst, nimmst du keine Rücksicht auf uns«, sagte er. »Wir sind hier in Gefahr. Ein Schnitt mit dem Messer durch die Achillessehne, schnipp , und wir sind erledigt. Ich weiß, daß ein adeliger Herr es mal so gemacht hat, weil er auf die Schauspieler eines anderen neidisch war.«
»Wir können das Mädchen nicht retten«, sagte ich. »Wie denn auch? Dieser Richter, der in die Stadt gekommen ist – vielleicht will er in dieser Angelegenheit eigene Nachforschungen anstellen.«
»Was bedeutet dem schon so etwas?« Martins Reaktion auf den Widerspruch war dermaßen leidenschaftlich, daß ihm alle Farbe aus dem Gesicht wich. »Was kümmern ihn arme Leute?«
»Er ist trotzdem die einzige Hoffnung, die dieses Mädchen hat.«
Springer meldete sich zu Wort, der Friedensstifter, und sprach für uns alle. »Wir sollten diese Stadt verlassen«, sagte er behutsam zu Martin. »Wir hatten nie die Absicht, hierher zu kommen; es war nur wegen Brendan. Und dann haben wir unsere gesamte Barschaft ausgegeben. Morgen abend, nach der Vorstellung, werden wir wieder viel Geld haben, mehr als wir alle zusammen jemals besaßen. Es reicht, Martin. Wir haben Angst. Jeder Faden verstrickt uns tiefer in dieses Teufelsnetz.« Für einen Augenblick bebte seine klare Stimme ein wenig. »Wir haben Angst«, wiederholte er. »Am liebsten würde ich heute abend noch abreisen, gleich nach der Vorstellung, wenn nicht die Dunkelheit und der Schnee wären.«
»Ja, dann brauchten wir diesem arschgesichtigen Wirt auch nicht wieder den Schuppen zu bezahlen«, sagte Stephen.
Und so beschlossen wir am Ende fast einmütig, sofort nach dem Ende der Aufführung die Stadt zu verlassen und im Fackelschein über Land zu ziehen, bis wir in den Schutz des Waldes gelangten, wo wir dann das Morgenlicht abzuwarten gedachten. Auch Martin mußte zustimmen, wenngleich Trauer und Schwermut auf seinem Gesicht lagen. Ob er sich an diese Abmachung gehalten hätte, sollten wir nie erfahren.
Kapitel zwölf
ir hatten uns wieder für den Hof des Wirtshauses entschieden, weil sich dort bereits alles für die Aufführung befand, so daß wir Zeit sparten. Stephen ging zum Tor, um das ›Wahre Stück von Thomas Wells‹ auszurufen, das in Kürze beginnen werde, und wir machten uns für die Vorstellung bereit.
Diesmal stellten wir die Vorhangpfosten für unsere behelfsmäßige Garderobe weiter auseinander, um mehr Platz für die Kostümwechsel zu schaffen; zudem errichteten wir die Garderobe diesmal nicht in einer der Ecken, sondern in der Mitte der Mauer, und stellten rechts und links davon Fackeln auf. Die Ein- und Ausgänge waren an den Seiten, so daß die Zuschauer jeden neuen Schauspieler erst dann bemerkten, wenn er ins Licht trat. Martin grenzte die Bühnenfläche mit Pflöcken und einem Seil ab, damit keiner der Zuschauer jenen Bereich betrat, den wir Schauspieler brauchten.
Dies alles geschah nach Martins Ideen und Anweisungen. Er traf die Vorbereitungen für die Aufführung mit einem so leidenschaftlichen Ernst, wie ich es selbst bei ihm noch nie erlebt hatte. Seine Niederlage bei der Abstimmung schien er verwunden zu haben; doch wir anderen ahnten nicht, daß Martins scheinbare Einsicht eine tödliche Gefahr für uns alle heraufbeschwören sollte. Wir wußten zwar, daß in seiner Vorstellungswelt das Stück und das wirkliche Leben nicht deutlich voneinander getrennt waren; wir wußten auch, daß er noch immer darauf hoffte, das Mädchen zu retten
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