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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ihm die Haare kurz geschnitten und das Halstuch abgenommen. Seine Arme waren nach hinten gebunden. Die beiden Gehilfen des Scharfrichters hielten ihn mit Stangen aufrecht, eine glich mehr einer Krücke. Außerdem trugen sie Handschuhe. Das Narbengesicht verfüge über unheimliche Kräfte, hatte Morpheus die Henkersknechte gewarnt. Die leiseste Berührung mit ungeschützter Haut könne sie das Leben kosten.
    Bald führten die Helfer den nächsten Todgeweihten aufs Schafott, einen nach der neuesten Mode gekleideten Mann: grüner Frack, cremefarbene Piquéweste, gelbe Hirschlederhose und nagelneue Stulpenstiefel. Er hatte keine rote Nelke im Knopfloch. »Nur nicht den Kopf verlieren, Monsieur Rotauge«, sagte er aufgeräumt, als er an Arian vorüberschritt. Ehe diesem der Doppelsinn des merkwürdigen Zuspruchs dämmerte, hatte sich der Delinquent schon seinem Publikum zugewandt, das hinter dem Spalier aus Nationalgardisten gaffte. »O Freiheit!«, rief er pathetisch. »Wie viele Verbrechen werden in deinem Namen begangen!«
    Die Leute lachten. Einige spotteten. Die Henkersknechte wahrten den Anstand und baten ihn höflich aufs Blutgerüst.
    Arian war sich darüber im Klaren, dass ihm kaum mehr Zeit blieb, seine benebelten Sinne zur Räson zu bringen. Auf der Fahrt von der Conciergerie hatte er die Schmährufe der Menschen, die den Weg zum Richtplatz säumten, nur wie durch Watte wahrgenommen. Noch immer lähmte eine klamme Schicht aus Apathie den vor verzweifelter Wut kochenden Kern seines Bewusstseins. Sein Geist steckte fest in diesem Käfig, der ihn, äußerlich teilnahmslos, alles hinnehmen ließ, was mit ihm geschah. Auf die Schaulustigen musste er wie ein gebrochener Mann wirken, der mit hängendem Haupt auf seine Hinrichtung wartete. Im Innern aber bäumte er sich gegen die Lethargie und die Hassgefühle auf, indem er unerbittlich seinen Verstand forderte.
    Von ihrer Geburt an sind und bleiben die Menschen frei und an Rechten einander gleich, rief er sich den Wortlaut der revolutionären Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den Sinn. Sein Gedächtnis arbeitete also noch. Vielleicht konnte er ja auch seine betäubten Kräfte wecken. Mit feurigen Gaukeleien wäre es diesmal sicher nicht getan. Er musste zurückholen, was er im Kampf gegen Zoltán verloren zu haben glaubte. Im Kerker von Ivoria hatte er es zum ersten Mal nach Jahren der Stille wieder gespürt. Es schlummerte tief in ihm.
    »Wartet nur, bald seid Ihr dran!«, rief einige Zeit später der feine Herr auf dem Blutgerüst. Es folgte ein kurzes »Adieu, ihr Hungerleider!« Dann schnitt ihm die Guillotine mehr als nur das Wort ab.
    Verbissen wiederholte Arian die Phrase von Freiheit und Gleichheit, die in so haarsträubendem Widerspruch zu den Geschehnissen um ihn herum stand. Zwischendurch probierte er die Stangen, die ihn auf den Beinen hielten, in Brand zu setzen. Vergeblich. Er war einfach zu schwach. Seine Gabe blieb verschüttet …
    »Monsieur. Darf ich Sie bitten«, sagte unvermittelt eine angenehme Stimme.
    Arian blickte auf. Vor ihm stand ein schwarz gekleideter Mittfünfziger mit breitem Gesicht und traurigen Augen. Er trug einen Zweispitz mit der Revolutionskokarde – eine kreisförmige Bandschleife in Blau, Weiß und Rot –, einen Frack, eine helle, längs gestreifte Weste und eine Bauchbinde – ebenfalls in den Revolutionsfarben. Arian kannte den Mann von Bildern. Man nannte ihn Monsieur de Paris – »Herr von Paris«. Es war Charles Henri Sanson, der Henker der Revolution.
    Durch den Feuerkristall glich sein Kopf dem eines Raben, was offenbar auf eine unglückliche Seele hindeutete. Warum war er vom Blutgerüst heruntergestiegen? Hatte Morpheus seinem Urenkel etwa einen Aufschub verschafft, um ihn doch noch zum Einlenken zu bewegen? Arian schöpfte Hoffnung. »Ich bin unschuldig, Monsieur Sanson«, beteuerte er. Seine Zunge war unendlich schwer.
    Der Scharfrichter nickte. »Ich weiß.«
    »Dann werden Sie mich nicht hinrichten?«
    »Nein.«
    Arian wurden vor Erleichterung die Knie weich. Ein Moment der Klarheit durchströmte seinen Geist und vertrieb den tiefschwarzen Hass wie Rauch im Wind. »Ich habe nie eine bessere Nachricht …«
    »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, Monsieur«, unterbrach ihn Sanson. »Ich bin zwar nach wie vor Träger des blutroten Mantels, des Amtszeichens, doch neuerdings kümmert sich mein Sohn Henri um das Tagesgeschäft. Die Gesundheit, wissen Sie? Ich wohne Ihrer Hinrichtung nur bei.«
    Wären

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