Die Masken des Morpheus
verwandelte. Die Bestie war noch durstig, sie brauchte frisches Blut.
Die Sensationsgier der Menschen widerte Arian an, ihre Gefühlskälte brachte erneut den Zorn in ihm zum Kochen. Wenn sie ihn umbringen wollten, warum sollte er nicht stattdessen sie töten? »Brennt, Ihr Barbaren!«, kreischte er und wühlte in seinem Unterbewusstsein nach den rettenden Flammen.
Um das Blutgerüst herum wurde es still.
»Was hat er gerufen?«, fragte jemand.
»Schick ihn endlich in die Hölle«, raunte der Gehilfe.
»Mach du’s«, sagte der Henkerssohn.
»Dann will ich nachher auch sein Haupt hochhalten.«
»Brennt!«, schrie Arian. »Feuer!«
»Tu es«, rief Sanson. »Schnell!«
Aus den Augenwinkeln sah Arian eine Bewegung. Zornig stemmte er sich gegen die Riemen an, die ihn an der Wippe festhielten. Zwecklos. Verzweifelt versuchte er den Kopf zu drehen, schaffte es aber nur, ihn leicht anzuheben.
Über den Rand des Schafotts sah er in die Menschenmenge. Mit gierigen Blicken starrten Männer, Frauen und sogar Kinder zu ihm herauf. Auch Jean Paul Marat stand da und redete wie ein Wasserfall. Mit Morpheus. Was für eine Ironie des Schicksals, im Angesicht des Todes den eigenen Körper so quicklebendig zu sehen!
Einige Schritte hinter den beiden schob sich ein Mädchen mit feuerroten Haaren durch die Menge. Mira? Jäh erlosch in Arian der Zorn, so wie wenn man eine Kerze ausbläst. Wäre es ihm gelungen, die blutrünstige Menschenmasse in Flammen zu tauchen, hätte er die Liebe seines Lebens ebenfalls getötet.
Und nun musste sie mit ansehen, wie er starb.
In seinem Herzen explodierte ein Pulverfass, so empfand er die aufbrandende Verzweiflung über das verlorene Glück.
»Mira!«
Ein fürchterliches Geräusch ließ ihn verstummen. Das Fallbeil war ausgelöst. Er spürte am Holzkragen das Zittern der Maschine, als es herabsauste, und fühlte ein heftiges Ziehen im Nacken. Das Innere des Weidenkorbs flog auf ihn zu, brennend und dröhnend. Arian wollte schreien, konnte es aber nicht. Sein Kopf landete im Sack und rollte herum, sodass er den Himmel sah. Er war blutrot. Inmitten von flimmernden Sternen erschien ein Schemen. Der Henkersgehilfe! Eine Hand streckte sich nach Arian aus.
Dann wurde es dunkel und still.
Mira wird Zeugin einer abscheulichen Bluttat.
Danach ist sie wie umgewandelt.
Sie hat nur noch einen Wunsch:
Jean Paul Marat muss sterben.
Paris, 13. Juli 1793
Er war weg. Einfach verschwunden. Mira hatte nur einen Moment nicht hingesehen und dann war Xix auf einmal wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Hatte er bemerkt, dass sie ihn verfolgte?
Ohne jedes Zeitgefühl irrte sie durch die Stadt. Ihre Sorge, einen Fehler gemacht und Arian im Stich gelassen zu haben, wurde immer größer. Hätte sie nicht besser beim Theater bleiben und auf ihn warten sollen, anstatt diesem Körpertauscher nachzujagen, der vielleicht längst sein Aussehen geändert hatte?
Und der sie zum Mörder ihrer Eltern führen konnte.
Dieser Gedanke knebelte ihre nagenden Zweifel, machte Mira zu einer Getriebenen. Sie hatte überall gesucht, wo eine Ratte wie Xix Freunde haben mochte, war beim Kriminalgericht gewesen, vor dem Tuilerienpalast, wo der Nationalkonvent tagte, in der Conciergerie, und nun sogar im Couvent des Cordeliers , einem ehemaligen Kloster des Ordens der Minderen Brüder südlich der Île de la Cité. Jean Paul Marat war einer der führenden Köpfe im dort tagenden Club des Cordeliers, dessen Motto Liberté, égalité, fraternité zum Wahrspruch der ganzen Revolution geworden war. Im Untergeschoss des Konventsgebäudes wurde L’Ami du Peuple gedruckt – Der Volksfreund –, jene Zeitung also, der Marat seinen Spitznamen verdankte. Weder Xix noch den Totschreiber ihrer Eltern fand sie in den Räumen, nur einen gewissen Monsieur Anthony John Horn, der sich als »Quasi-Schwager« Marats vorstellte, was immer das bedeutete.
»Sie haben keinen kleinen, dicken Mann mit einem Dreispitz und einem schwarzen Umhang gesehen?«, vergewisserte sie sich. Inzwischen war es Nachmittag geworden.
Horn schüttelte amüsiert den Kopf. »Wer trägt denn bei diesem Wetter einen Mantel, Mademoiselle?«
»Jacques Rochelais. Einige nennen ihn Xix. Es könnte sein, dass er Monsieur Marat sucht. Wissen Sie, wo sich Ihr… Schwager gerade befindet?«
Der Gefragte musterte sie aus schmalen Augen. Marat hatte sich mit seinem hitzköpfigen Schreibstil viele Feinde gemacht. Um sie abzuschütteln, war er sogar mehrmals
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