Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
die Haltestangen nicht gewesen, hätte die Mitteilung Arian buchstäblich umgehauen. Sie war so niederschmetternd, dass er nichts mehr zu sagen vermochte. Er wandte sich der Treppe zu, die zum Blutgerüst hinaufführte. Versehentlich trat er dabei dem Henker auf den Fuß. »Entschuldigen Sie bitte, Monsieur.«
    »Nein, Monsieur«, widersprach Sanson, »bitte verzeihen Sie mir .«
    Gestützt von den Stangen der Henkersknechte schleppte sich Arian die Stufen hinauf. Er zählte jede einzelne. Eins, zwei, drei… Hoffte dadurch, seinen benebelten Geist zurückzuerobern. Vier, fünf, sechs, sieben… Rang mit der Benommenheit wie einst Jakob mit dem Engel. Acht, neun, zehn.
    Nun stand er auf der Plattform, wankend, seltsam entrückt. Er empfand keine Furcht. Lag das an dem Gift, das sie ihm eingeflößt hatten? Da waren nur ein paar kleinere Kümmernisse, die ihn bewegten. Wo würde man ihn anfassen? Wie musste er den Kopf halten, damit er dem Sohn des höflichen Herrn Sanson nicht unnötig die Arbeit erschwerte? Würde an den Händen der Männer Blut kleben? War es angebracht, noch etwas zu sagen?
    Für einen Moment stand er unschlüssig da, so wie jemand, der auf die Postkutsche wartete, die längst abgefahren war. Vom Schafott hatte man einen fast unverstellten Blick auf den riesigen Platz mit seinen prachtvollen Bauten drum herum, den Gärten der Tuilerien im Osten und der Champs-Élysées im Westen. Nur der gewaltige leere Sockel, auf dem bis vor Kurzem das Reiterstandbild Ludwigs XV. gestanden hatte, und die Köpfmaschine schränkten die grandiose Aussicht ein.
    Die Guillotine werde wegen ihrer Einfachheit und Zuverlässigkeit gepriesen, hatte der Mann ohne Nelke auf der Fahrt zum Richtplatz erzählt. Obwohl – es hieß, beim dicken Hals des Königs habe sie einen zweiten Anlauf benötigt. Der hölzerne Rahmen, ungefähr drei Schritte hoch, und der unten angebrachte Klapptisch waren tatsächlich erschreckend unspektakulär. Arian beunruhigte hauptsächlich das große, mit einem Gewicht beschwerte Messer mit der schrägen Klinge, die ihn an einen Säbel erinnerte.
    Zwei Gehilfen des Scharfrichters traten auf ihn zu. Auch sie trugen Handschuhe. Morpheus hatte für alles vorgesorgt. Sie packten Arian an den Armen. »Bitte kommen Sie zur Wippe, Monsieur.«
    Er ließ sich wie ein Schaf zur Schlachtbank führen. Sein Herzschlag beschleunigte sich zwar, aber es war immer noch keine Angst, nur eine merkwürdige Aufregung, die ihn erfasste. Wenn er die Maschine in Brand setzte, würde man es vielleicht als Ausdruck himmlischen Zorns auffassen. Die Franzosen waren gläubige Katholiken. Sie müssten für solche Zeichen empfänglich sein.
    Die Henkersknechte führten ihn an den Tisch der Köpfmaschine, der in eine aufrechte Position geklappt worden war. Arian ragte mit den Schultern über die Oberkante der Auflage hinaus. Während die Gehilfen des Scharfrichters ihn festschnallten, zog ein anderer mit einem Seil die Klinge des Fallbeils in die Höhe, bis oben ein Auslösemechanismus einrastete. Der Mann ähnelte Sanson – offenbar war es sein Sohn.
    Feuer! , dachte Arian. Früher war es so leicht gewesen, etwas nur mit Gedankenkraft in Brand zu stecken. Sein Bewusstsein konzentrierte sich jetzt nur noch auf diese eine Aufgabe: Feuer!
    Als die Wippe in die Waagerechte gekippt wurde, stieg in ihm Übelkeit auf. Er blickte geradewegs in einen offenen Sack, der in einem Weidenkorb lag. Sein Hals lag nun auf der unteren Hälfte der Lünette, einem zweiteiligen Holzkragen, der ein Verrutschen des Hinzurichtenden aus der Idealposition verhindern sollte. Flugs wurde auch das Oberteil herabgelassen. Nun gab es kein Vor und kein Zurück mehr.
    »Ich bin so weit«, sagte Henri Sanson.
    »Feuer! Feuer!«, zischte Arian verzweifelt. Er rechnete jeden Augenblick mit dem Schaben des Fallbeils, wenn es durch die Nuten in den Pfosten herabsauste.
    »Alles in Ordnung, Henri?«, fragte eine Stimme.
    »Er hat Feuer gesagt«, antwortete Sanson. »Monsieur M. meinte, der Einäugige verfüge über magische Kräfte.«
    »Das kannst du ihm auf der Stelle austreiben.«
    Immer noch passierte nichts.
    »Feuer!«, brüllte Arian.
    Das Publikum wurde ungeduldig. »Warum dauert das denn so lange?«, rief jemand.
    »Vielleicht soll er uns ein Abschiedsständchen singen«, hallte aus der Nähe die Antwort herauf.
    Ein Lachen ging durch die Menschenmenge, das sich wie ein Lauffeuer über den ganzen Platz ausbreitete und sich dabei in wütendes Geheul

Weitere Kostenlose Bücher