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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nach England geflohen. Deshalb lebte er sehr zurückgezogen. Die Öffentlichkeit wusste nicht einmal, wo er wohnte.
    »Möglicherweise ist Monsieur Marat in Gefahr«, sagte Mira, um ihrer Frage mehr Gewicht zu verleihen.
    Horn blieb stumm. Offenbar rangen in ihm das Misstrauen und eine unter Männern verbreitete Schwäche: Sie vermochten einem schönen Mädchen kaum zu widerstehen. Schließlich obsiegte wohl seine Sorge um den Quasi-Schwager. »Gehen Sie zur Place de la Révolution. Er wollte dort jemanden treffen.«

    Einen einzelnen Menschen auf dem größten Platz der Stadt finden zu wollen, war wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Zumal ein dichtes Gedränge herrschte. Das warme Licht des späten Nachmittags ließ die Szene wie ein pathetisches Revolutionsgemälde erscheinen. Titel: Rasoir national macht die Feinde des Volkes um einen Kopf kürzer .
    Mira mied den Blick zum ›nationalen Rasiermesser‹. Sie lief an den Tribünen vorbei, die man für das betuchte Publikum aufgestellt hatte. Die feine Gesellschaft verfolgte das blutige Drama auf dem Blutgerüst mit Operngläsern. Weder Marat noch Xix waren dort zu sehen. Also mischte sie sich unter die Menge.
    Als sie der Köpfmaschine schon ganz nahe war, sah sie ihn. Nicht Xix. Nein, es war Jean Paul Marat. Der Totschreiber. Sein mageres, von den Skrofeln – einer Hautkrankheit – gezeichnetes Gesicht war der Guillotine zugewandt. Angeregt gestikulierend sprach er mit einem schwarzen Lockenkopf. Der junge Mann war ungefähr in Miras Alter und sah ausgesprochen gut aus. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Ihre rechte Hand schob sich in den linken Ärmel und umschloss den Griff des Stiletts. Langsam bahnte sie sich den Weg durch die Menge.
    Die Schaulustigen raunten. »Warum dauert das denn so lange?«, rief jemand.
    »Vielleicht soll er uns ein Abschiedsständchen singen«, antwortete ein anderer.
    Mira hob den Blick – und erstarrte. Sämtliche Härchen auf ihrem Körper richteten sich auf. Arian lag auf der Maschine. Wutentbrannt schrie er irgendetwas, das sie nicht verstand. Das Publikum um ihn herum verstummte. Dann entdeckte er sie. Während er mit einem roten und einem braunen Auge zu ihr heruntersah, vollzog sich auf seinem Gesicht eine auffällige Veränderung. Hass verwandelte sich in Liebe und Zorn in Verzweiflung …
    »Mira!«
    Sein Schrei ging ihr durch Mark und Bein. Ihr wurde eiskalt.
    Der Scharfrichter zog an der Leine, die das Fallbeil auslöste. Es sauste nach unten. Die Menschen warfen begeistert die Arme hoch …
    »Arian!« Ihre Stimme verhallte ungehört im allgemeinen Jubel.
    Der Henker – er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein – schien die Aufmerksamkeit der Menschenmasse zu genießen. Hastig streckte er die Hand nach dem Haupt im Korb aus, um es dem Publikum zu präsentieren.
    Mira wandte sich angewidert ab. Sie wollte nicht sehen, wie er das Gesicht, das trotz seiner Hässlichkeit ihr Herz erobert hatte, als blutige Trophäe zur Schau stellte. Aber sie hörte es, als der Applaus aufbrandete. Ihr wurde schwindelig.
    Dann veränderte sich jäh der Klang des Lärms, aus Begeisterung wurde Angst. Verstohlen blickte sie nun doch zum Schafott und sah … Feuer! Auf dem Blutgerüst!? Der Platz um sie herum drehte sich immer schneller. Das Geschrei der Masse hallte seltsam hohl in ihren Ohren, während sie in sich zusammensank und die Besinnung verlor.

    Sie zuckte heftig zusammen, als sie plötzlich in ihr eigenes Antlitz sah. Nicht nur das, Mira tätschelte sich selbst die Wange. In ihrer Benommenheit dauerte es einige aufgeregte Herzschläge lang, bis sie begriff, was da geschehen war. Eine Frau – den makellosen Händen nach zu urteilen eine ziemlich junge – hatte sich neben sie gekniet, um ihr zu helfen. Nun lag die Gute besinnungslos da, und alle Welt hielt Mira für die hilfsbereite Mitbürgerin.
    Das Vewirrendste war: Etwas von der Fremden wehrte sich dagegen, den Körper zu verlassen. Es war ein dunkles, unstillbares Verlangen, sich selbst zu opfern, um Abertausende Leben zu retten. Vielleicht hatte diese morbide Sehnsucht in Miras Hass auf den Todschreiber eine Seelenverwandschaft entdeckt. Und nun vereinigten sich beide Triebe, wie sich zwei leichtere Gifte zu einer viel tödlicheren Mischung verbinden.
    Mira hob den Blick, suchte nach Marat und dem schwarzen Lockenkopf. War das Morpheus gewesen? Im Körper von Arian? Die beiden Männer waren nirgends zu entdecken, ebenso wenig der junge Henker,

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