Die Masken des Morpheus
der nicht schnell genug das blutige Haupt hatte vorzeigen können. Die auf der Plattform verbliebenen Gehilfen waren damit beschäftigt, die Flammen der brennenden Guillotine mit bluttriefenden Tüchern auszuschlagen. Seltsamerweise hatte die Leiche des Entleibten noch nicht Feuer gefangen.
Mira schaute wieder nach unten. Es zerriss ihr das Herz, Arian so zu sehen. Bittere Tränen rannen ihr über die Wangen. Geistesabwesend streichelte sie das Gesicht, das nun einer anderen gehörte. Darüber wich das dumpfe Gefühl in ihrem Kopf und eine seltsame Klarheit erfüllte sie. Das Mädchen, in dessen stoffliche Hülle sie geschlüpft war, hatte die Place de la Révolution nicht aus Sensationslust aufgesucht. Es war wegen Jean Paul Marat hier.
Um ihn zu töten.
Nie zuvor hatte Mira ein so starkes Seelenecho wahrgenommen. Offenbar war diese besondere Art des Mitgefühls von Arian auf sie abgefärbt. Selbst den vollständigen Namen des Mädchens kannte sie: Marie Anne Charlotte Corday d’Armont.
Sie war eine verarmte Adlige, eine Anhängerin der Girondisten, aus Caen. Sogar einige Erinnerungsfetzen konnte Mira sehen, so unklar wie die Bilder eines flüchtigen Traums. Die Klosterschülerin war vor zwei Tagen mit der Postkutsche nach Paris gereist, um den Wortführer der Jakobiner umzubringen. Zu diesem Zweck hatte sie sich am Morgen für vierzig Sous ein Küchenmesser gekauft. Anschließend sprach sie unter einem Vorwand in Marats Wohnung vor. Eine andere Frau verwehrte ihr den Zutritt, sagte, sie müsse ein schriftliches Gesuch einreichen, um ihr Anliegen vorzutragen. Darauf war Charlotte in ihre Unterkunft, dem Hôtel de la Providence in der Rue des Vieux Augustins Nummer 17, zurückgekehrt. Sie hatte das verlangte Billett aufgesetzt und es über die innerstädtische Schnellpost verschickt. Dass sie dem Volksfreund hier begegnete, obwohl er angeblich wegen seiner Krankheit das Haus hüten musste, hatte sie überrascht. Allerdings nicht so sehr, wie das, was nun mit ihr geschehen war.
Wie ein Blitzschlag traf Mira eine andere Erinnerung, diesmal war es ihre eigene. Sie hatte den schwarzen Lockenkopf in London gesehen. Auf Plakaten von Astley’s Amphitheatre. Es war tatsächlich der Körper von Arian gewesen … Nein, es war Morpheus!
Zornig ballte sie die Fäuste. Die Eintracht von Marat und dem Metasomenfürsten vor dem Blutgerüst bewies eindeutig, dass die beiden sich gegen Arian verschworen hatten. Nun also klebte an den Händen des Schmierfinken das Blut eines weiteren Menschen, den Mira geliebt hatte. Ihre Tränen versiegten, es schien, als sei ihre Seele plötzlich zu Eis gefroren, als spräche Charlotte Corday zu ihr: Verbünden wir uns, Schwester. Bringen wir dieses Scheusal um!
Sie öffnete ihre Tasche, ein blaues Säckchen mit einer Kordel zum Verschließen. Darin lag das Küchenmesser. Es hatte einen schwarzen Griff und ähnelte einem Dolch. Die Klinge war ungefähr eine Handspanne lang. Mira nahm ein Schnupftuch heraus und tupfte damit ihre Tränen ab. Dann holte sie die Geldbörse aus dem Täschchen und winkte zwei Männern in mittlerem Alter zu, dem Aussehen nach Tagelöhner. Sie machten einen vertrauenswürdigen Eindruck. »Können Sie Mademoiselle ins Quartier de la Madeleine bringen, Messieurs? Ich gebe Ihnen fünfzig Sous.«
Beide nickten verhalten.
Mira erklärte den Männern den Weg zum Hôtel de Lys und schärfte ihnen ein, die junge Dame nur dem Hausdiener Zedekiah Blacksmith persönlich zu übergeben. Er solle die Ärmste in ihr Zimmer einschließen. Sie sei verwirrt, die Folge einer Krankheit, die es ratsam mache, sie nicht mit bloßer Haut zu berühren. Dieses Detail des Auftrags weckte bei den Transporteuren Besorgnis, die sich allerdings durch eine Verdoppelung des Preises zerstreuen ließ. Er besäße einen Handkarren, sagte der eine. Hierauf hoben sie Miras Körper vom Pflaster auf und trugen ihn davon.
Mademoiselle Corday, wie man meinen könnte, entfernte sich in die Gegenrichtung. Am Seine-Ufer nahm sie eine Lohnkutsche.
»Wohin darf ich Sie bringen, Madame?«, fragte der Kutscher.
»In die Rue des Cordeliers Nummer 20, bitte.«
Das Gesicht im Spiegel war so sanft, die Wangen so rosig, das weiße Kleid so sittsam. Ein Fräulein aus der Provinz würden die Leute denken. Mira wusste nicht, warum Simone Évrard, Marats Mätresse, der jungen Bittstellerin am Morgen den Zutritt zu ihrem Geliebten verweigert hatte, doch es war wohl kaum aus Furcht vor einer Meuchlerin gewesen.
Mira
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