Die Masken des Morpheus
untersetzter, jüngerer Mann mit braunen Haaren herbeigestürzt. Er hielt einen druckfrischen Bogen des neuesten L’Ami du Peuple in der Hand. Offenkundig war er gerade damit beschäftigt gewesen, Journale zu falten.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?«, fragte er schroff. Seine Augen fixierten Miras Brusttuch, als ahne er, was sie im Ausschnitt verbarg.
»Ich bin Marie Anne Charlotte Corday d’Armont aus Caen und muss dringend zu Monsieur Marat. Und wer sind Sie?« Sie sprach forsch und lauter als nötig, in der Hoffnung, bis in den hintersten Winkel der Wohnung gehört zu werden.
»Laurent Basse. Ich arbeite für den Volksfreund. Catherine … Ich wollte sagen, Madame Évrard hat Ihnen sicher erklärt, dass Monsieur …«
»Ich habe Namen«, unterbrach Mira den Mann.
Er blinzelte. »Pardon?«
»Die Namen von Verrätern. Ganz Frankreich weiß, wie erpicht Monsieur Marat darauf ist, die Republik von Volksfeinden zu reinigen.«
»Lasst sie herein«, hallte es plötzlich gebieterisch in die Diele. Mira erschauderte. Es war die Stimme des Totschreibers.
Madame Évrard und Monsieur Basse wechselten einen Blick. Er zuckte mit den Schultern und sie seufzte. »Einen Moment bitte, Mademoiselle.«
Sie nickte. »Ich warte.« Ihr Puls raste. Sie widerstand der Versuchung, ihre Hand auf das Messer zu legen.
Die Quasi-Schwägerin des Schreiberlings öffnete eine Tür und streckte den Kopf hindurch. »Kann sie hereinkommen, Jean-Paul?«
»Ja doch!«, tönte es ungeduldig von drinnen.
Madame Évrard ließ die Tür ganz aufschwingen und wies in den Raum dahinter. Hätten ihre Augen Pfeile verschießen können, die Besucherin wäre nicht einmal bis zur Schwelle gekommen.
Mira betrat ein Badezimmer. Es war klein, dunkel und feuchtwarm. Durch ein winziges Fenster drang etwas Abendlicht herein.
Marat saß in der Badewanne, über die er ein Leinentuch gebreitet hatte. Von ihm war kaum mehr als der rechte Arm und das Haupt zu sehen. Man neigte unweigerlich zu der Annahme, er habe mit seiner messerscharfen Nase in ein Wespennest gestochen, so viele Quaddeln verunstalteten sein knochiges Gesicht. Auf dem Kopf trug er eine Art Turban aus Leinen. Quer vor ihm lag ein Brett mit Papieren, einem Tintenfass samt Feder und einer brennenden Kerze. Ein unermüdlicher Diener der Revolution.
Mira war bei der Tür stehen geblieben. Sie machte einen Knicks und stellte sich als Charlotte Corday vor.
Marat deutete auf einen Stuhl an der Wand. »Setzen Sie sich zu mir, Mademoiselle. Sie sind erstaunlich hartnäckig. Das imponiert mir. In Ihrem Billett schrieben Sie, der große Dramatiker Pierre Corneille sei Ihr Urgroßvater gewesen? Erzählen Sie mir etwas mehr von sich und ihrer Familie.«
Als sie ihm den Rücken zuwandte, um nach dem Stuhl zu greifen, zog sie unauffällig das Küchenmesser aus dem Ausschnitt und verbarg es in den Falten ihres weißen Kleides.
Sie schenkte dem hässlichen Schmierfinken ein Lächeln, während sie sich neben ihn setzte. Die Hand mit dem Messer ließ sie locker herabhängen, damit er es nicht sah. Er saß rechts von ihr, nur eine Armlänge von ihm entfernt. Miras Herz raste vor Aufregung. Marat sah so verletzlich aus. Sie verspürte ein kaum zu bezähmendes Verlangen, auf ihn einzustechen. Doch das Seelenecho von Arian stemmte sich gegen diesen Wunsch. Sie musste erst letzte Gewissheit haben, ehe sie dieses Scheusal tötete.
Obwohl ihr Charlottes Verwandtschaftsverhältnis zu Corneille neu war, umschiffte sie diese Klippe souverän, ohne sich eine Blöße zu geben. Neben Molière und Jean Racine gehörte er zu den ganz Großen des französischen Theaters. Als gebildetes Mädchen aus gutem Hause wusste sie das natürlich. Und während sie für Rodrigue schwärmte, den Helden der Tragikomödie Le Cid , die ihrem vermeintlichen Urgroßvater zum Durchbruch verholfen hatte, beschäftigten sich ihre Finger unablässig mit dem Messer.
Marat starrte sie unverwandt an, während sie aus den erbeuteten Erinnerungsfetzen von Charlotte Corday einen bunten und, wie sie hoffte, glaubhaften Flickenteppich zusammensetzte. Vermutlich genoss dieser klapprige Widerling sogar die Gesellschaft einer hübschen jungen Frau, derweil er sich nackt im warmen Wasser suhlte. Des Öfteren kratzte er sich oder rieb an den Schwellungen in seinem Gesicht herum.
»Ich musste in letzter Zeit oft an die Worte meines Urgroßvaters denken, der schrieb: ›Nicht das Schafott, das Laster macht die Schande‹«, behauptete Mira, weil ihr das
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