Die Masken des Morpheus
mehr Gewicht als jedes Dokument, denn Herman gab sich damit zufrieden und wandte sich erneut dem Zeugen zu.
Der vermeintliche Verlagsgehilfe gab sich zerknirscht, als der Präsident des Tribunals ihn nach dem Grund seiner Flucht vom Tatort befragte. Nackte Todesangst hätte ihn dazu bewogen, nun wolle er sein feiges Benehmen durch eine Aussage wiedergutmachen. Der Bürger Mortimer Slay könne nichts mit dem Mord an Marat zu tun haben, erklärte er. Das beweise eine Liste von Verrätern, die er bei dem sterbenden Volksfreund gesehen habe. Die nun folgende Aufzählung einiger Namen rief bei den Anwesenden empörte Reaktionen hervor. Als der Zeuge bei Maximilien de Robespierre anlangte, gebot ihm der Vorsitzende mit einer Geste zu schweigen.
»Polizeikommissär Perriere erzählte mir, dass er Ihnen diese ominöse Liste gezeigt hat. Stimmt es, was der Bürger Basse behauptet?« , fragte er den Unbestechlichen.
Robespierres braune Augen funkelten gefährlich. Er ließ sich viel Zeit, um sich schließlich ein Nicken abzuringen.
»Alle genannten Namen gehören Jakobinern oder Mitgliedern im Club des Cordeliers. Ich will sehen, wohin das führt.« Der Präsident wandte sich erneut dem Zeugen zu. »Wieso glauben Sie, dass die von Mademoiselle Corday diktierte Liste unseren Angeklagten freispricht?«
Basse sah sich zu Arian um, der zu gerne gewusst hätte, wer für ihn dieses gefährliche Spiel spielte.
»Monsieur?«, brachte sich Herman in Erinnerung.
Der Zeitungsfalter drehte sich um. »Die Liste der angeblichen Volksfeinde, die Marat niederschrieb, schließt auch Mortimer Slay ein. Wäre Mademoiselle Corday seine Marionette, hätte er sie kaum seinen eigenen Namen auf eine Todesliste setzen lassen.«
Es ist Mira!, dachte Arian. Die Erwähnung der Fadenpuppe konnte nur ein versteckter Hinweis sein. Er fasste wieder Mut.
»Stimmt das?«, fragte Herman den Unbestechlichen.
Der nickte abermals.
»Es könnte eine Finte sein, um jeglichen Anschuldigungen die Spitze zu nehmen«, raunte Fouquier-Tinville. Sein Gesicht glühte vor Zorn.
»In einer Zeit, wo allein der Verdacht genügt, um einen Mann auf die Guillotine zu bringen, wäre das aber eine sehr riskante Strategie«, sagte Basse.
»Sie sind Zeuge, nicht Verteidiger«, zischte der Ankläger.
»Gleichwohl ist das Argument nicht von der Hand zu weisen«, pflichtete Herman dem Zeitungsfalter bei.
Arian nickte. Mira machte das gut.
»Bleiben nach wie vor die Anschuldigungen der Bürger Legros und Tarin«, beharrte Fouquier-Tinville.
»Die entweder verblödet oder absent sind.« Der Präsident löste die Versammlung vor seinem Tisch auf und schickte die Parteien auf ihre Plätze zurück. Danach richtete er das Wort in normaler Lautstärke wieder an den Zeugen. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie uns mitteilen möchten, Bürger Basse?«
»Ja, Monsieur Président.« Er deutete zu Arian. »Dieser Junge ist gar nicht Mortimer Slay. Er kann höchstens zwanzig sein. Wenn Sie sich erkundigen, seit wann der geheimnisvolle Monsieur M. in Paris die Fäden zieht, werden Sie wesentlich ältere Hinweise auf ihn finden. Außerdem habe ich Madame Simone Évrard mitgebracht. Sie war Marats Mä-«.
»Jeder in der Stadt weiß, wer sie ist«, unterbrach Herman den Zeugen.
»Na, jedenfalls kennt Sie Mortimer Slay. Sie wird Ihnen bestätigen, dass es nicht dieser Bursche dort ist.« Erneut deutete Basses Zeigefinger zum Angeklagten. »Im Übrigen könnten Ihnen die Zeugen von der Place de la Révolution sagen, dass der Bürger Marat mit einem kleinen dicken Mann gesprochen hat. Sie jagten zusammen den Engländer, der bei seiner Hinrichtung am Samstag die Guillotine in Brand gesteckt hat.«
»Ich habe davon gehört; ein sonderbares Ereignis. Vermutlich können Sie mir nicht verraten, wo dieser ›kleine, dicke Mann‹ jetzt ist?«
»Doch, das können wir!«, rief jemand von jenseits des Gitters.
Laurent Basse oder wer immer sich in seiner Hülle verbarg, atmete erleichtert auf.
Herman stöhnte. »Hatte ich nicht befohlen, die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit anzuberaumen? Wer ist das nun wieder?«
»Ich bin Tarin«, hallte die Antwort durch den Saal.
»Etwa der Tarin? Der fehlende Zeuge?«
»Jetzt bin ich da, Euer Ehren.«
Der Präsident befahl den Wachen, den Mann einzulassen und auch gleich die »Witwe« des Mordopfers mitzubringen. Simone Évrard drückte er sein Beileid aus und ließ ihr einen Stuhl neben dem Anklägerpult zuweisen. Als Tarin am
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