Die Masken des Morpheus
bekämpft.
Die Nummer des »Flaschenakrobaten« Fuzzi näherte sich ihrem Ende. Er hatte einen Tisch, einen dreibeinigen Schemel, vier Weingläser, ein Tablett und eine Kristallkaraffe zu einem Turm aufeinandergestapelt. In diesem Augenblick balancierte er auf der Tischkante, den Krug mit beiden Händen umfasst, und machte einen Kopfstand. Das Publikum tobte vor Vergnügen.
Plötzlich legte sich etwas auf Arians Schulter. Erschrocken fuhr er herum. Der Sergeant Major stand hinter ihm und erschrak sich gleich mit.
»Ruhig Blut, Junge. Ich bin’s nur.«
Arian warf einen Blick durch den Feuerkristall. »Stimmt, du hast immer noch deinen Hyänenkopf.«
Philip räusperte sich verlegen. »Musst du mich ständig an meine Schwächen erinnern? Ich weiß auch so, dass ich manchmal zu wankelmütig bin.«
Ja, genauso wie einst Nostradamus. »Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.«
»Ab morgen beginnt für dich ein neues Leben. Gib den Kristall Francis zurück, am besten heute noch.«
Applaus verhinderte, dass Philip das Thema vertiefen konnte. Der Flaschenakrobat war mit seiner Darbietung fertig. Musik spielte auf, während er die Manege für den Direktor der Equestrik räumte. Philip Astley hatte es sich nicht nehmen lassen, das Publikum persönlich durchs Programm der beiden Samstagvorstellungen zu führen. Nun sagte er mit seiner dröhnenden Stimme, die bis in den letzten Winkel des Theaters reichte, den Puppenspieler Mike und seine sprechende Puppe Eibo an.
Unter frenetischem Beifall betraten der Künstler und sein hölzerner Freund den Ring. Helfer hatten bereits einige Lampen gelöscht und mit Spiegeln einen Kegel aus Licht erschaffen, in den Arian seine Puppe führte. Er trug einen hautengen nachtschwarzen Anzug, der ihn fast unsichtbar machte. Seine Figur war so konstruiert, dass er sie ohne Fäden verblüffend natürlich bewegen konnte.
Es schien, als suche sie etwas, während sie, den Blick zum Boden gerichtet, um den Hocker herumscharwenzelte, der mitten im Lichtkegel stand. »Wo isser denn?«, fragte sie ein ums andere Mal, so als locke sie einen putzigen Hund. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, zunächst sacht, bald so nachdrücklich, dass allein ihre übertriebene Gestik die ersten Lacher hervorrief. »Wo is’ denn der Kleine?« Schließlich setzte sich Eibo auf den Schemel, schlug die Beine übereinander und seufzte.
Arian trat mehrere Schritte in die Dunkelheit zurück. Als Eibos Stimme nun erklang, schien sie immer noch aus dem Mund der Puppe zu kommen, obwohl ihr Spieler sie doch allein gelassen hatte. Ein verblüfftes Raunen und Zischeln ging durchs Publikum. Die Leute sahen jetzt nur noch die Figur, die mit der Kodderschnauze eines Dockarbeiters über die großen und kleinen Sorgen der Leute schwadronierte.
»Hat irgendwer die Rübe Robespierres gesehen?«, fragte sie.
Schlagartig kehrte Stille ein. Wohl jeder wusste, von wem die Rede war.
»Seit drei Wochen such’ ich nun schon nach ihr. Soll neben den Korb gefallen sein, als das Fallbeil seinen Hals durchhackte. Is’ einfach weggekullert, der kluge Kopf. Ich muss ihn unbedingt was fragen.«
Die Spannung löste sich und etliche lachten. Schwarzer Humor, der in anderen Teilen Europas oft nur Naserümpfen hervorrief, traf den Geschmack der Engländer ebenso wie Pfefferminzsoße und Nierenpudding.
»Neulich is’ ja die Birne von Danton im Londoner Hafen angeschwemmt worden«, fuhr Eibo fort. »Is’ irgendwie vom Blutgerüst heruntergehüpft, in die Seine gekullert, in den Kanal getrieben und hat sich dann wohl in einem englischen Kriegsschiff verfangen. Wahrscheinlich Nelsons Agamemnon . Der alte Stiernacken war so ein hinreißender Redner. Hat mir den ganzen Abend lang die Ohren vollgequatscht. In einsamen Stunden durchaus nützlich. Hab seinen Kopf in Salzlake eingelegt, damit mir seine Eloquenz noch ein Weilchen erhalten bleibt.«
Das Publikum brüllte vor Lachen. Von Eibo erwartete man derbe Späße.
Aufgrund seiner Erfahrungen mit Hinrichtungen, Revolutionstribunalen und aufgehetzten Massen konnte und wollte Arian über die Entwicklungen im Nachbarland nicht schweigen. Zwar präsentierte er die beunruhigenden Nachrichten auf eine bissig-witzige Weise, hoffte aber trotzdem, die Zuschauer zum Nachdenken anzustiften.
In Frankreich hatte der Schrecken der Tugend am 28. Juli ein jähes Ende gefunden. Davor waren jeden Monat immer mehr Menschen unter dem Fallbeil gestorben, im Oktober des vergangenen Jahres sogar die einstige
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