Die Masken des Morpheus
Verräter?«
»Bitte …!«, wimmerte der Fischer.
»Ich wäre bereit, über deine Verfehlungen hinwegzusehen, wenn du mir einen Dienst erweist.«
»Was … was verlangt Ihr von mir?«
»Sollte das Mädchen wiederkommen und dich um eine Überfahrt nach Frankreich bitten, dann verhältst du dich ganz normal. Bringe sie dorthin, wo du sie vor einer Woche abgeholt hast. Ich werde dir später ein Lichtzeichen erklären, mit dem du dich drüben ankündigen kannst. Und falls Baladurs Tochter noch jemanden bei sich hat, gibst du ein anderes Zeichen. Hast du das verstanden?«
»Ja, Herr.«
»Gut.« M. ließ die Hand des Fischers los. »Alles Weitere können wir während der Überfahrt besprechen. Es bleibt doch bei unserer Abmachung?«
»Sicher, Herr. Auf mich könnt Ihr Euch verlassen.«
Der Seelendieb lächelte. »Mach nicht so ein trübseliges Gesicht, Paul. Du bist gerade dem Tod entronnen. Wenn du mich nicht enttäuschst, kannst du noch viele Hundert Jahre leben.«
Die Sonne war schon lange aufgegangen, als die Möwe etwa vier Stunden später die französische Seite des Ärmelkanals erreichte. Das kleine Segelboot landete an einem von Dünen überzogenen, schwer überschaubaren Strandabschnitt östlich von Calais. Der Fischer war nervös. In Friedenszeiten hielt man hier bestenfalls halbherzig nach Schmugglern Ausschau. Jetzt dagegen war dieser Küstenstrich bestimmt noch strenger bewacht als der englische.
M. hatte für den Ernstfall vorgesorgt. In einem Käfig aus hölzernen Stäben saß eine junge, kräftige Brieftaube. Sollte das Boot von den Füsilieren der Nationalgarde unter Beschuss genommen werden, würde er in den Vogel schlüpfen und davonfliegen. Er hoffte, dass ihm derlei Beschwernisse erspart blieben. Selbst wenn er sich Arians Körper später zurückholen konnte, war er einfach zu kostbar, um ihn dem Verstand einer Taube anzuvertrauen.
Unbehelligt erreichten sie den menschenleeren Strand. M. zahlte seinem Fährmann für die Überfahrt eine stattliche Summe – mit Speck fing man Mäuse. Nachdem er den englischen Seemann fortgeschickt hatte, machte er sich mit seinem Vogel auf den Weg ins Hinterland. Nach etwa einer Meile entdeckte er das weiß getünchte Haus, nach dem er gesucht hatte. Es war mit roten Ziegeln gedeckt und kaum größer als eine Kate. Im Fenster stand eine brennende Kerze.
Wenig später klopfte M. an die Tür: dreimal lang und zweimal kurz.
Von drinnen war ein Rumpeln zu hören. Schwere Schritte näherten sich. Dann öffnete ihm ein kleiner, ziemlich kräftig gebauter Mann mit lichtem Haar, großer Nase und enormen Tränensäcken. Über seiner sandfarbenen Weste und Culotte trug er einen braunroten Tuchfrack. Es hatte sich augenscheinlich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen, dass zu einer respektablen Erscheinung neuerdings saubere Wäsche gehörte. Vor allem sein Halstuch stand vor Dreck.
»Xix?«, fragte M. Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
»Ja, Herr«, knirschte der Dickwanst.
»Du hast schon wieder einen neuen Körper. Etwas korpulent, findest du nicht?«
»Nur eine Übergangslösung, Herr. Ich habe ihn von dem Fischer, einem Witwer, der die Kate bis vor Kurzem bewohnte. So schöpfen die Nachbarn keinen Verdacht, wenn ich in der Gegend nach weiteren Aufwieglern suche.«
»Sehr umsichtig. Und wie lange gedenkst du, mich hier draußen stehen zu lassen?«
»Oh! Verzeiht.« Der Dickwanst verbeugte sich halbwegs würdevoll und gab die Tür frei.
M. betrat das Haus und sah sich um. Die Einrichtung war schlicht: ein Tisch, zwei Stühle, eine Truhe und ein Bett. An den Wänden hingen Kochgeschirr und Seemannsutensilien. »Dieser Fischer – war das der Mann, der mit dem Verräter auf der anderen Seite des Kanals gemeinsame Sache gemacht hat?«
»Ganz richtig, Herr. Jacques Rochelais hieß er. Er hat den abtrünnigen Swappern zur Flucht nach England verholfen. Ich habe ihn mir einverleibt, damit er uns keine Scherereien mehr macht. War Eure Reise erfolgreich?«
»Nicht so, wie ich es mir erhofft hatte.«
»Ihr habt einen prachtvollen jungen Körper, wenn ich das bemerken darf.«
»Danke.«
»Die Ähnlichkeit mit Tobes’ Sohn ist frappierend, Herr. Habt Ihr Euch mit ihm verschmolzen?«
»Nein«, knurrte M. Er stellte den Vogelkäfig auf den Tisch, rückte einen der beiden Stühle ab, ließ sich darauf nieder und erzählte, wie es ihm in London ergangen war.
Xix setzte sich zu ihm. Während er aufmerksam zuhörte, zupfte er ständig an seinen Haaren, den
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