Die Masken des Morpheus
»Verlass mich jetzt nicht, Arian.«
Er riss die Augen auf, wollte ihr sagen: Ich sterbe jetzt; du brauchst dich nicht länger um das schattige Plätzchen zu bemühen. In seiner Todesangst versuchte er zu schreien, krächzte aber nur kläglich. Sie verstand nicht. Das grobschlächtige Gesicht, das besorgt auf ihn sah, versank jäh in Dunkelheit.
Mister M. zieht es nach Paris zurück.
Am Ärmelkanal trifft er einige Vorkehrungen,
die seinen Feinden das Leben erschweren sollen.
Dover, Calais, 8. Juni 1793
Das Meer vor den Weißen Klippen von Dover war ruhig in dieser Nacht. Beinahe zu ruhig, dachte der Seelendieb, der Arians Körper entführt hatte. Etwas mehr Brandung könnte nicht schaden, um das Gejammer des Verräters zu übertönen. An diesem Gestade war man vor unliebsamen Überraschungen nie sicher, vor allem, seit Frankreich und England miteinander im Krieg standen und die britische Armee argwöhnisch die nahen Häfen jenseits des Kanals beäugte. Außerdem zogen die Strände unterhalb der Kreidefelsen Schmuggler geradezu magisch an, weil sich der bleiche Küstenstrich auch nachts gut sehen und ansteuern ließ. Solches Treiben plagte wiederum das Auge des Gesetzes wie ein tief sitzender Dorn, den zu ziehen fast unmöglich war. Die Riding Officers versuchten es wenigstens, indem sie hier als Küstenwächter patrouillierten. M. wollte bei seinem Verhör weder von den einen noch den anderen gestört werden.
»Heul mir nicht die Ohren voll und sag endlich die Wahrheit«, zischte er und bog die Hand des Seemannes herab, bis die Knöchelchen im Gelenk knackten.
Der Fischer japste nach Luft, unterdrückte diesmal aber einen Schrei. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Sie reflektierten dutzendfach das Licht der am Bug seines Bootes hängenden Sturmlampe. Die Schmerzen entstellten sein breites Gesicht, machten daraus eine hässliche Grimasse. Er war ein rauer Bursche mit wettergegerbter Haut, Vollbart und einem dichten dunklen Haarschopf. Das harte Seemannsleben hatte seinen robusten Körper in den vergangenen fünfzig Lebensjahren zweifellos gestählt. Gegen die qualvollen Kniffe und Griffe eines Mister M. nützte ihm das wenig. Mit zusammengebissenen Zähnen bettelte er um Gnade. »Bitte, Herr! Ihr brecht mir die Hand.«
M. schob seinen Mund nahe ans Ohr des Swappers und zischte: »Wäre es dir lieber, wenn wir miteinander verschmelzen?«
»Nein!«, keuchte der Mann. »Bitte verschont mich.«
»Warum sollte ich das tun?«, entgegnete M. lächelnd. Er genoss es, endlich wieder einen Körper zu bewohnen, der so stark war.
»Ich bin unschuldig.«
»Du bist ein Verräter.«
»Das stimmt nicht.«
»Wie nennst du es dann, dass du deinem früheren Leben abgeschworen hast? Dass du deine Familie verleumdest? Dass du in einem dahinwelkenden Leib auf den Tod warten willst, weil dir die Liebe einer Sterblichen wichtiger ist als die Regeln unserer Bruderschaft? Und obendrein hast du dich den Idealen von Tobes verschrieben, diesem Abtrünnigen, der sich gegen mich aufzulehnen wagte …«
»Ich bin ihm nie begegnet, Herr.«
»Aber du warst ein Freund Baladurs, oder etwa nicht?«
Der Fischer antwortete nicht. Er starrte nur schnaufend auf seine Hand, die der so harmlos aussehende junge Mann schon viel zu weit nach unten gebogen hatte.
»Du weißt, dass ich dich auslöschen könnte«, sagte M. bedrohlich ruhig. »Wenn wir verschmelzen, lebst du nur mehr in meiner Erinnerung fort. Also rede! « Er verstärkte abermals den Druck.
Der Seemann schrie. »Aufhören! Bitte, bitte! Ja, es stimmt. Ich habe Baladur gut gekannt.«
»Und seine Tochter?«
»Sie ist noch ein Kind.«
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich will wissen, ob du sie übergesetzt hast.«
Der Fischer fing an zu wimmern. »Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
»Hast du sie aus Calais abgeholt?«
»Ja. Bei den Dünen. Vor einer Woche. Nachdem sie mir eine Botschaft geschickt hatte. Ich dachte, ich sei es ihrem Vater schuldig.«
»Das war ein Fehler…« M. hielt inne, als plötzlich auf Dover Castle die Stundenglocke schlug. Er blickte zu der Festung empor, die ein Stück weiter östlich auf einer Anhöhe wie ein dunkles Ungeheuer kauerte. Vor anderthalb Jahrtausenden hatte er zum ersten Mal hier gestanden. Der achteckige Glockenturm von St Mary in Castro war damals noch ein römischer Leuchtturm gewesen.
Nach drei Stundenschlägen verstummte die Glocke.
»Es wird Zeit zu gehen«, sagte M. »Du kennst die Strafe für
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