Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau

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Bahn zu erzwingen und andere Fuhrwerke, Reiter oder Wanderer aus dem Weg zu scheuchen. Diesmal galt das Signal nur der nächsten Zwischenstation. Nicht dass die Kutsche dort anhielt, sie verlangsamte nur ihr Tempo. Der Wachmann warf einfach die Post vom Wagen, schnappte sich vom Stationsmeister ein neues Bündel Briefe, und schon ging die halsbrecherische Fahrt weiter.
    »Du hast geträumt«, sagte Mira. Ihre Hand hielt noch immer die seine fest.
    »Woher weißt du das?«
    »Du siehst mich an, als sei ich ein neunköpfiges Ungeheuer.«
    Die Frau mit dem Gänsekopf japste entrüstet.
    »Ich würde gerne mein Glasauge bedecken. Hast du ein Tuch dabei, das ich mir ausleihen kann?« Er hatte ihr letzte Nacht von der Wirkung des Feuerkristalls erzählt. Menschen auf zweierlei Weise zu sehen, war nicht immer aufschlussreich, manchmal rätselhaft und auf die Dauer ziemlich nervtötend.
    »Ja. In meinem Gepäck. Beim nächsten Halt suche ich es dir heraus. « Sie runzelte die Stirn und neigte leicht den Kopf? »Was siehst du, wenn du mich anschaust?«
    Er schluckte. »Jedenfalls keine Hydra.«
    Der Chamäleonpriester gegenüber bekreuzigte sich.
    Arian hielt es für das Beste, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Er lehnte das Haupt zurück und schloss die Augen.
    Die kommenden Stunden erlebte er in einem ständigen Wechsel zwischen Schlafen und Wachen. Ungefähr alle zehn Meilen wurden die Pferde gewechselt, was normalerweise in zwei Minuten erledigt war. Der zahlenden Kundschaft ließ man ein wenig mehr Zeit, um ab- oder aufzusteigen. Weil die vier Plätze im Innenraum des Wagens belegt waren, setzten sich die neuen Fahrgäste neben den Kutscher oder auf die Dachbank.
    Pünktlich zur Teatime endete die Reise am Black Pig in der Limekiln Street, unterhalb der berühmten Weißen Klippen. Östlich der Poststation lag der alte Hafen von Dover. Arian fühlte sich wie gerädert. Mehr als zehn Stunden lang war er nun durchgeschüttelt worden. Er hatte einen Bärenhunger, ebenso wie die anderen beiden. Deshalb kehrten sie gleich in das Gasthaus ein, dessen Name Arian an die schwarzen Eber erinnerte, die er durch den Feuerkristall gesehen hatte. Mittlerweile trug er ein nachtfarbenes Tuch über dem falschen Auge, das die verwirrenden Bilder auf ein erträgliches Maß dämpfte. Außerdem ließ es ihn wie einen verwegenen Seebär aussehen.
    Der seltsame Phönix-und-Falken-Traum hing ihm noch nach. Wenn der rote Stein das wahre Wesen der Menschen in Tiergestalt zeigte, stellten die Wildschweine wohl die triebhafte Gier der Diebe und Mörder dar. Gemäß der Überlieferung stand der Bär für einen Seelenführer und geduldigen Zuhörer, was auf den alten Zedekiah sicher zutraf. Und Mira? War es nun gut oder schlecht, dass er sie als Falkenfrau sah? Diese Vögel waren edel, mutig und schnell – und sie töteten ihre Opfer mitten im Flug.

    Zur Linken türmten sich die Kalksteinklippen auf und rechts brauste das Meer. Arian stapfte an der Seite von Mira missmutig über den Strand. Er wünschte sich unsichtbar zu sein, doch die White Cliffs bewirkten eher das Gegenteil. Sie schimmerten im Mondlicht wie die Gebeine eines riesigen Ungeheuers. Es war kurz vor Mitternacht. Der Wind pfiff ihm um die Nase. Irgendwo schrie eine Möwe. Nun hatten sie keinen Bären mehr, der sie beschützte. Zed war mit der Abendkutsche nach London zurückgefahren, nachdem er alles für die Überfahrt nach Calais arrangiert hatte.
    »Um diese Zeit treiben sich wahrscheinlich nur Schmuggler und Spione hier herum«, brummte Arian. Obwohl Turtlenecks kräftiger Körper keinerlei Gehhilfe benötigt hätte, stützte er sich um seiner Rolle willen auf den Stock. Irgendwie beruhigte es ihn, den schweren, wie eine Schildkröte geformten Silberknauf in der Rechten zu spüren. Links schleppte er Miras Reisegepäck.
    »Du hast die Liebespaare vergessen«, fügte sie hinzu. Ihre weiche Altstimme klang belustigt. Sie neigte den Kopf und sah ihn von der Seite an.
    Ihm stieg einmal mehr die Röte ins Gesicht. Ob sie das absichtlich machte? Kaum vorstellbar, dass sie sich ihrer Wirkung auf das männliche Geschlecht nicht bewusst war. Zum Glück konnte er sich mit der Dunkelheit verbünden und den dickfelligen Burschen spielen. »Das kauft uns keiner ab. Hübsche Mädchen wie du laufen vor Narbengesichtern wie mir bestenfalls davon.«
    Ihr Blick ruhte weiter auf ihm, als suche sie nach Rissen in seiner harten Schale. An ihrer Stimme hörte er, dass sie lächelte. »Das Auge der