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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Rätselhaftigkeit, die über diesem Fall lag. Bossi lächelte glücklich. Er persönlich liebte solche Fälle und bedauerte es immer wieder, dass der Commissario seine Vorliebe nicht teilte.
    Er setzte sich wieder an seinen winzigen Schreibtisch, ergänzte hier und da noch ein fehlendes Komma in seinem Bericht und sah schließlich auf die Uhr. Kurz vor elf. Der Commissario nahm jeden Morgen eine dienstliche Inspektion des Café Florian vor (die sich manchmal in die Länge zog), aber gegen elf Uhr war er meistens in seinem Büro.
    Bossi schob die beiden Bogen seines Berichts zusammen, legte sie zwischen zwei Aktendeckel und erhob sich. Dann warf er einen letzten Blick in den Spiegel, um die Sterne auf seinen Schulterklappen zu überprüfen, und trat auf den Flur hinaus.

    «Der Ermordete hat tatsächlich die Eisenbahn benutzt», sagte Bossi fünf Minuten später. Er hatte auf dem knarrenden Bugholzstuhl vor Trons Schreibtisch Platz genommen und seinen Bericht auf Trons Schreibtisch gelegt. «Der Schaffner in Verona konnte sich gut an ihn erinnern. Er reiste mit einem Gepäckstück, das etwas ungewöhnlich war.
    Besser gesagt: mit einem Frachtstück.» Bossi machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. «Der Ermordete führte einen Sarg mit sich.»
    «Wie bitte?» Bossi beobachtete mit Genugtuung, wie  Trons Augenbrauen nach oben schossen.
    «Einen verlöteten und behördlich versiegelten Zinksarg.
    Aus den Papieren ging hervor, dass der Tote an der Cholera gestorben war. Der Frachtschein ist auf einen Signor Montinari ausgestellt worden.»
    «Also wissen wir den Namen des Ermordeten.»
    Bossi nickte.
    «Wer hat die Papiere ausgestellt?»
    «Die Begleitpapiere für den Sarg hat ein Amtsarzt in Peschiera unterschrieben. Der Frachtschein ist von der Bahn ausgestellt worden.»
    «Wenn Signor Montinari auf dem Weg nach Venedig  ermordet worden ist», sagte Tron, «dann kann er den Sarg nicht in Venedig in Empfang genommen haben. Also muss sich der Sarg noch auf dem Bahnhof befinden.»
    «Das würde er auch, wenn er nicht abgeholt worden  wäre.»
    «Wer hat den Sarg abgeholt?»

    Bossi, dem es lieber war, wenn Tron die Schlussfolgerung selber zog, sagte: «Jemand, der den Frachtschein hatte, der in Verona ausgestellt wurde.»
    «Also kann nur der Mörder den Sarg in Venedig abgeholt haben. Mit wem haben Sie hier am Bahnhof gesprochen?»
    «Mit dem Beamten, der für die Fracht zuständig ist. Er hat den Sarg an den Mörder ausgehändigt.»
    «Wie hat der Beamte ihn beschrieben?»
    «Mittelgroß, kräftig, glatt rasiert. Weder alt noch jung. Unauffällig. Der Mann sprach übrigens veneziano. So wie Signor Montinari.»
    «Wo befindet sich der Sarg jetzt?»
    «Er ist nach San Michele gebracht worden.»
    «Woher wissen Sie das?»
    «Ein Gepäckträger hat gesehen, wie der Sarg eine halbe Stunde nach Ankunft des Zuges auf eine Gondel befördert worden ist», sagte Bossi. «Die beiden Männer, die den Sarg verladen haben, waren Totengräber aus San Michele. Der Gepäckträger kannte sie zufällig.»
    «Ist der Mann mit in die Gondel gestiegen?»
    «Das konnte er leider nicht sagen.»
    Tron machte ein nachdenkliches Gesicht. «Jemand  kommt mit einem Sarg nach Venedig. Er wird getötet, und der Sarg wird gestohlen. Eine ziemlich bizarre Geschichte.»
    «Sie glauben also, es war ein Raubmord?»
    «Ausgeführt von einem professionellen Killer, der im Sold finsterer Mächte steht? Die ihm den Auftrag erteilt haben, eine Choleraleiche zu stehlen?» Tron lächelte – ein wenig herablassend, wie Bossi fand.
    «Ich glaube gar nichts, Bossi», fuhr Tron fort. «Natürlich könnten wir es mit einem Raubmord zu tun haben, und  natürlich könnte der Mörder nicht auf eigene Rechnung getötet und geraubt haben. Aber in der Regel sind die Geschichten, die sich im wirklichen Leben abspielen, erheblich trivialer und bieten selten Stoff für Romane.»
    «Und was machen wir jetzt?»
    Tron warf einen Blick auf die Uhr, die neben dem Bild des Kaisers an der Wand hing. Er zuckte die Achseln. «Wir machen das, was auf der Hand liegt.»
    «Wir fahren nach San Michele?»
    «Genau», sagte Tron. «Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass dieser Sarg auf der Toteninsel gelandet ist. Einen Mann zu töten, ihm den Sarg zu stehlen und diesen dann auf San Michele begraben zu lassen ist ein völlig sinnloser Vorgang.»
    «Und wenn der Sarg doch nach San Michele gebracht  worden ist?»
    Tron musste unwillkürlich lachen. «Dann sollten Sie mir

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