Die Masken von San Marco
einen Ihrer Romane ausleihen, Bossi.»
14
Aus der Luft betrachtet, ist die Isola San Michele, die venezianische Toteninsel, ein auffällig geometrisches Gebilde, ein großes steinernes Rechteck, zusammengesetzt aus kleinen Rechtecken, Quadraten und Kreissegmenten. Richtige Bäume gibt es auf San Michele nicht, nur steife, düstere Zypressen, und braune, fruchtbare Gartenerde ist auf dieser bizarren Kreuzung von Friedhof und Kasernenhof nirgendwo zu sehen.
Pater Silvestro, der richtige Bäume und Gartenerde auf San Michele nie vermisst hatte, verschloss die Tür seines Arbeitszimmers und drückte die Klinke herab, um festzustellen, ob sie tatsächlich verschlossen war. Er stieg auf einen Stuhl und verhüllte das hölzerne Kruzifix an der Wand mit einem Tuch. Dann zog er die Fenstervorhänge zu, setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm ein Messer aus der Schublade. Der große braune Umschlag lag bereits auf dem Tisch. Als Pater Silvestro ihn aufschlitzte, zitterten seine Hände.
Er hatte den Umschlag heute Morgen auf der Post an der Rialtobrücke abgeholt, wo er poste restante auf ihn gewartet hatte. Wie jedes Mal, wenn er eine neue Sendung abholte, klopfte sein Herz bis zum Zerspringen, und er fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Natürlich war das albern. Mit seiner hageren Gestalt und seinen freundlichen braunen Augen, aus denen Gottesliebe und Askese sprachen, verkörperte er das Idealbild des vertrauenswürdigen Priesters. Niemand würde darauf kommen, was sich tatsächlich in dem Umschlag befand.
Pater Silvestro verstaute das Messer wieder in der Schublade, drehte sich um und warf vorsichtshalber noch einen Blick auf die Tür und die Vorhänge. Dann steckte er seine Hand, die immer noch heftig zitterte, in den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Er hatte seine erste Bestellung – es war damals auf dem Priesterseminar – auf eine Annonce hin aufgegeben, die ihm in einer französischen Zeitschrift aufgefallen war, und war mit der Lieferung außerordentlich zufrieden gewesen. Pater Silvestro hätte sich gerne häufiger eine frische Sendung geleistet, aber allzu viel von der Kollekte abzuzweigen wäre aufgefallen.
Auch diesmal enthielt die Sendung die übliche Anzahl von Fotografien: zwei Dutzend Bildnisse junger Frauen im handlichen Carte-de-Visite-Format, jedes einzelne in duftendes Seidenpapier eingeschlagen. Drei der Bildnisse – Pater Silvestro sah es mit Entzücken – waren geschmackvoll koloriert. Jede der jungen Frauen hielt etwas in der Hand – ein Tamburin, einen Fächer, ein Weinglas oder eine Zigarette. Sie trugen Zylinderhüte, orientalische Turbane, Schleier, neckische Krönchen und Stiefelchen. Allen jedoch war gemeinsam, dass sie außer Zylinderhüten, Turbanen und Stiefelchen nichts anderes trugen.
Als Pater Silvestro begann, die kleinen Bildnisse wie eine Patience auf dem Tisch auszulegen, spürte er, wie ihm das Blut zu Kopf stieg und sich sein Pulsschlag beschleunigte.
Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs ein zweites Mal, zog eine Lupe heraus und beugte sich schwer atmend über die Fotografien. Wenn er die Lupe dicht vor das rechte Auge hielt und das linke Auge schloss, dann hatte er manchmal das Gefühl, er müsse nur noch seine Hand ausstrecken, um …
Das Klopfen an der Tür kam so plötzlich und unerwartet, dass Pater Silvestro vor Schreck die Lupe fallen ließ. Ein paar Sekunden lang steckte er im Klammergriff einer so überwältigenden Panik, dass er außerstande war zu reagieren. Dann sagte eine Stimme, die er nicht kannte und die sich anhörte wie die Stimme des Jüngsten Gerichts: «Sind Sie da, Pater Silvestro? Wir würden Sie gerne sprechen.»
Pater Silvestro riss die Schublade auf, schob die Fotografien mit beiden Armen hinein, knallte die Schublade wieder zu und erhob sich taumelnd.
Das Zimmer, das Tron und Bossi betraten, war ein kleiner zweifenstriger Raum, dessen Einrichtung sich auf einen Schrank, ein fast leeres Bücherregal, zwei Stühle und einen Tisch beschränkte. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Bibel, daneben eine Lupe mit Horngriff. Über ein an der Wand befestigtes Kruzifix war – aus welchen Gründen auch immer – ein Tuch gehängt worden, sodass man nur die hölzernen Füße des Gekreuzigten erkennen konnte. Pater Silvestro, dessen Füße man unter seiner nach oben gerutschten Soutane ebenfalls gut erkennen konnte, war ein hagerer, asketisch wirkender Mann mit einer hohen Stirn – und es war ganz offensichtlich, dass ihn der
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