Die Masken von San Marco
zog seinen Dienstrevolver aus der Manteltasche, entsicherte ihn und öffnete die Tür. Ein schmaler Flur – staubiges Terrazzo, keine Holzdielen –, von dem links und rechts jeweils eine Tür abging, beide standen auf. Dünnes, fahles Licht fiel von zwei Seiten auf die Rückwand des Flurs und beleuchtete einen Schirmständer. Aus keinem der beiden Räume, vermutlich Küche und Zimmer, kam ein Geräusch. Königsegg, der den Atem angehalten hatte, um zu lauschen, schlich weiter und warf einen vorsichtigen Blick in die Kü che. Ein Tisch, zwei Stühle, in der Ecke ein gemauerter Herd und auf der eisernen Platte ein Topf. Es roch schwach nach verdorbenen Lebensmitteln, aber der Geruch schien nicht vom Herd zu kommen. Das Küchenfenster war geschlossen, und durch die schmutzigen Scheiben sah Königsegg Wäscheleinen auf dem Hof.
Er drehte sich um, den Revolver immer noch im Anschlag, überquerte den Flur und betrat das Zimmer, das er ebenso verlassen vorfand wie die Küche. Auch hier waren die Fenster geschlossen, und der Geruch nach verdorbenen Lebensmitteln war noch stärker als in der Küche. Die Einrichtung beschränkte sich auf einen Tisch, ein Bett, einen Nachttisch, einen eisernen Ofen und einen Kleiderschrank.
Als Königsegg in die Mitte des Zimmers trat und sein Blick auf die kleine Nische zwischen dem Fußende des Bettes und der Wand fiel, hätte er fast den Revolver fallen gelassen. Hier standen, dicht aneinandergerückt, die beiden Messingzylinder, in denen sich die coagulatio zugetragen hatte. Einen wahnsinnigen Moment lang hegte er die völlig irre Hoffnung, dass sich die Halskette in einem der Zylinder befinden würde. Doch nachdem er die Klappe des linken Zylinders geöffnet hatte, stellte er fest, dass er leer war.
Auch der rechte Zylinder enthielt lediglich ein Bündel dicker, schwärzlich aussehender Schnüre.
Nein, dachte er, es wäre auch äußerst unwahrscheinlich gewesen, dass der professore die Kette und das Gold in einer so schlecht gesicherten Wohnung aufbewahren würde – einer Wohnung, die offenbar nur angemietet worden war, um noch mehr betrügerische Geschäfte abzuwickeln. Allerdings konnte man sich da nie sicher sein. Und was sprach dagegen, sich noch ein wenig genauer umzusehen?
Königsegg ließ sich ächzend auf die Knie sinken, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Nichts. Dann hob er die Matratze an und tastete sie sorgfältig ab, ebenfalls ohne etwas zu entdecken. Danach inspizierte er die Schublade des Tisches, fand aber nur einen Korkenzieher und Besteck.
Auf dem Nachttisch lagen zwei Bücher. Er klappte sie auf, um auszuschließen, dass es sich um raffiniert getarnte Schatullen handelte – er war schließlich kein Dummkopf. Aber es waren nur die Bibel und ein französischer Roman.
Schließlich nahm er eine Gabel aus der Schublade des Tisches, öffnete die Ofenklappe und stocherte in der Asche, die sich unter dem Rost gesammelt hatte – auch hier, ohne irgendetwas zu finden. Blieb also nur noch der Schrank.
Königsegg trat vor die Schranktür, drehte den Schlüssel vorsichtig nach links, hörte das metallische Klicken, mit dem sich das Schloss öffnete – und stellte fest, dass sich die Tür langsam von alleine öffnete, so als würde der Schrank auf unebenem Fußboden stehen, was definitiv nicht der Fall war. Offenbar drückte irgendetwas von innen gegen die Tür. Königsegg versetzte der Tür einen kräftigen Stoß, um dieses Was-immer-es-war an die Rückwand des Schrankes zu kippen, aber es gelang ihm nicht. Ganz im Gegenteil – jetzt schien der Druck auf die Tür noch stärker geworden zu sein, sodass er sie losließ und einfach einen Schritt zurücktrat.
Dann sah Königsegg, wie ein Kopf an der aufschwin genden Tür erschien, sich danach ein Paar Schultern zeigte und schließlich der Rest des Körpers mit einem dumpfen Poltern aufschlug und vor dem Schrank liegen blieb. Dass aus Kleiderschränken Tote fallen, war eine neue Erfahrung für Königsegg, und entsprechend lange dauerte es, bis er begriffen hatte, was er sah. Es war der professore, der ihm zu Füßen lag.
Er war auf die Seite gefallen, hatte den Mund und die Augen geöffnet, was seinem Gesicht einen staunenden Ausdruck verlieh. Sein Kopf war weit und offenbar mit großer Gewalt in den Nacken gebogen, und Königsegg musste unwillkürlich an einen Mann denken, der die Bahn einer aufsteigenden Rakete verfolgt. Da man ausschließen konnte, dass der professore freiwillig in den Schrank gestiegen war,
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