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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er legte den Kopf in den Nacken und sah Tron verwirrt an.
    «Ich dachte, er hieß Montinari.»
    Tron lächelte. «So hieß er auch. Ihre Graberei hat mich nur an etwas erinnert. Wie lange brauchen Sie noch?»
    «Vielleicht fünf Minuten.»
    Sie hatten das frische Grab ohne langes Suchen gefunden. Die Wolkendecke war kurz vor Mitternacht aufgerissen, und ein bleicher Halbmond hatte sich am Himmel über der östlichen Lagune gezeigt. Bei völliger Dunkelheit, dachte Tron, wäre es vielleicht schwierig gewesen, sich auf der Toteninsel zu orientieren, und bei hellem Vollmondschein hätte die Gefahr bestanden, entdeckt zu werden. So war es perfekt, zumal ein brusthoher Nebelschleier über den Gräbern hing, der alle Geräusche dämpfte. Die Erde, obgleich nass vom Regen der letzten Tage, schien noch locker und beweglich zu sein. Tron hatte nicht den Eindruck, dass Bossi sich außerordentlich anstrengen musste.
    Bis jetzt lief alles hervorragend. Nur das laute Scharren, das jedes Mal zu hören war, wenn das Blatt von Bossis Spaten über den metallenen Sargdeckel schrammte – er war dabei, den Sargdeckel freizulegen –, war etwas irritierend.
    Bossi drehte seinen Kopf zum Rand der Grube, an dem  Tron stand und die Blendlaterne hielt. «Meinen Sie, dieses Scharren hört jemand?»
    Tron schüttelte den Kopf. «Obskuren Geräuschen, die  zur Geisterstunde aus Gräbern kommen, geht man nicht nach, Bossi.»
    «Und wenn jemand die Blendlaterne sieht?»
    «Dann wird er sie für Elmsfeuer halten», sagte Tron.
    «Für Elmsfeuer ?» Das Wort schien Bossi nicht ganz geheuer zu sein.
    «Für Irrlichter», sagte Tron. «Das sind die Geister der Toten, die um eins wieder verschwinden.»
    Bossis Gesicht war nicht zu erkennen, aber Tron hatte nicht den Eindruck, dass den ispettore diese Antwort beruhigte. Überhaupt schien dieser nächtliche Friedhofsbesuch seine Nerven stark zu strapazieren.
    Tron ging vorsichtig in die Hocke und hielt die Blendlaterne direkt über den Sargdeckel. Bossi hatte die Erde jetzt fast vollständig entfernt. Die metallische Oberfläche des Deckels schimmerte im Mondlicht.

    «Können Sie erkennen, ob der Sarg verlötet ist?»
    «Ich glaube …» Bossi verstummte und räusperte sich  nervös. Dann beugte er sich auf den Sarg hinab, und Tron hörte leise Kratzgeräusche.
    «Sie glauben was?»
    «Dass er nicht verlötet ist», sagte Bossi.
    «Ist er verlötet gewesen ?»
    «Das kann ich bei dem Licht nicht erkennen», erwiderte Bossi. «Der Deckel lässt sich jedenfalls verschieben.»
    «Dann schieben Sie ihn vorsichtig zurück. Nur ein paar Zentimeter.»
    Tron konnte nicht sehen, was Bossi unter ihm in der  Grube tat, aber er hörte Ächzen und dann ein Geräusch, als würde sich Metall auf Metall bewegen.
    Bossi holte tief Luft und hob den Kopf. Offenbar war es ihm gelungen, den Deckel zu verschieben. «Und jetzt?»
    «Jetzt riechen Sie erst mal, Bossi.»
    «Riechen?»
    «Ja, riechen», sagte Tron. «Mit der Nase.»
    «Wie ansteckend ist … Cholera?»
    «Cholera wird nicht durch Miasmen übertragen. Sie  können unbesorgt die Nase in den Sarg stecken.»
    «Miasmen?»
    «Pestgeschwängerte Luft», erklärte Tron. «Viele glauben immer noch, dass sich die Cholera so überträgt. Aber in der Regel ist es das Trinkwasser.»
    Bossi sah Tron misstrauisch an. «Sind Sie da sicher, Commissario?»
    «Absolut sicher. Rein mit der Nase!» Tron klatschte in die Hände – ein Geräusch, das sich auf dem stillen Friedhof so laut wie ein Pistolenschuss anhörte und Bossi zusammenzucken ließ. «Das ist ein dienstlicher Befehl!»

    Bossi zögerte einen Moment lang, doch dann beugte er sich über den Sargdeckel und senkte das Gesicht.
    «Und?»
    Bossi hob seinen Kopf. «Nichts.»
    «Was nichts?»
    «Es riecht überhaupt nicht», sagte Bossi.
    «Dann öffnen Sie den Sarg noch weiter und stochern Sie mit dem Spaten herum», ordnete Tron an.
    «Ich?»
    «Sie. Das ist Ihr Spaten.»
    Tron sah, wie Bossi den Sargdeckel mit dem Fuß zur  Seite schob und anschließend mit äußerster Vorsicht – so als wäre er im Begriff, ein schlafendes Ungeheuer zu wecken – den Spaten in den Sarg steckte. Dann zog er ihn plötzlich heraus und stieß einen Schrei aus.
    «Was ist, Bossi?»
    Bossis Stimme klang verängstigt. «Da liegt irgendetwas Großes, Weiches in dem Sarg.»
    Tron, der neben der Grube in die Hocke gegangen war, wich unwillkürlich mit dem Oberkörper zurück. «Sie haben eben

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