Die Masken von San Marco
zurück und gab drei weitere Schüsse ab. Die Kompression in der Windkammer musste inzwischen nachgelassen haben, aber Boldù konnte nicht feststellen, dass sich der Druckabfall auf die Schussbahn auswirkte.
Tatsächlich lagen die Einschüsse diesmal fast genau im Zentrum. Die Windbüchse war der Traum von einer Waffe. Boldù nickte anerkennend. «Perfekt.»
Girandoni lächelte. «Es geht noch besser.» Sein Lächeln wurde breiter. «Wollen Sie das Zielobjekt nur beschädigen, oder wollen Sie es zerstören?»
Darüber musste Boldù nicht lange nachdenken. «Ich will es zerstören.»
«Dann kann ich das Projektil für Sie modifizieren. Ich zeige es Ihnen.»
Sie gingen wieder in den Schuppen zurück, Girandoni entzündete einen kleinen Petroleumkocher und gab ein paar Körnchen einer grauen Substanz in den Tiegel über der Flamme. «Blei», erklärte er.
«Wofür?»
«Das werden Sie gleich sehen.»
Girandoni nahm eine weitere Patrone aus der Schublade, schliff mit einer groben Feile die Spitze des Projektils ab, sodass man unter der Kupfer-Nickel-Schicht die Bleifüllung erkennen konnte. Dann bohrte er mit einem dünnen Bohrer ein Loch in den Bleikern und füllte ein Tröpfchen Quecksilber hinein. Schließlich versiegelte er den Hohlraum, in dem sich jetzt das Quecksilber befand, mit Blei.
Zum Schluss nahm er eine Feile und schliff das Projektil in seine ursprüngliche Form zurück.
«Die ballistischen Eigenschaften sind identisch», sagte Gi randoni. «Gleiches Gewicht, gleiche Form. Fast der gleiche Schwerpunkt.»
«Aber?»
«Das Projektil hat eine andere Wirkung. In dem Moment, in dem es auf einen Widerstand trifft, wird das Quecksilber gegen den Bleiverschluss an der Spitze des Geschosses geschleudert, und der Druck lässt das Blei nach allen Seiten explodieren.»
«Sie meinen, das Projektil durchschlägt das Ziel nicht, sondern …»
«… verwendet seine Energie vollständig darauf, zu zerstören. Das Objekt fliegt förmlich auseinander», bestätigte Girandoni und hielt das Projektil zwischen zwei Fingern wie ein Praliné. «Probieren wir es aus?»
«Gerne.»
«Dann sollten wir allerdings ein anderes Ziel wählen, eines, bei dem Sie die Wirkung des Geschosses deutlich erkennen können.»
«Dachten Sie an etwas Bestimmtes?»
Girandoni überlegte einen Augenblick, dann nickte er.
«Warten Sie.»
Er verschwand in der Hütte und kam kurz darauf mit einen Schemel zurück, auf dem ein Kürbis lag. Er stellte ihn genau vor die Pappel. Der Kürbis hatte die Größe eines Kopfes. Boldù fragte sich, wie viel Girandoni bereits ahnte.
Wieder kniete er sich hinter das Fass, sodass er den Lauf des Gewehrs auflegen konnte. Dann zielte er sorgfältig, und als die Mitte des Kürbisses im Fadenkreuz lag, zog er den Abzugshebel durch. Es ertönte ein trockenes Plopp, und den Bruchteil einer Sekunde später explodierte der Kürbis. Sein Inneres sprengte die Schale und spritzte nach allen Seiten auseinander. Den Weg zur Pappel konnte man sich sparen: Das Ziel auf die Genauigkeit des Einschusses zu untersuchen, war unmöglich – es existierte nicht mehr.
«Wer immer Sie beim Gebrauch dieser Waffe beobachtet», sagte Girandoni lächelnd, «wird beeindruckt sein.»
36
Manchmal staunte Tron darüber, wie souverän er zwischen dem Palazzo Tron und dem Palazzo Balbi-Valier, zwischen Kargheit und Überfluss, hin- und herpendelte. Ein weniger gefestigter Geist, dachte er dann, hätte dieses kulturelle Wechselbad kaum verkraftet. Er hingegen genoss es. Er fand, dass das eine den Reiz des anderen noch erhöhte. Die wohlgeheizten Räumlichkeiten im Palazzo Balbi-Valier erschienen ihm noch luxuriöser, wenn er sich dabei die feuchte Kälte des Palazzo Tron vergegenwärtigte. Die Aura melancholischen Verfalls, die er am Palazzo Tron so schätzte, kam ihm noch liebenswerter vor, wenn er an den leichten Einschlag ins nouveau riche im Palazzo Balbi-Valier dachte. Und natürlich fielen ihm bei dem Éclair, das er gerade verspeiste, sofort die preisgünstigen Brötchen der Contessa und die Marmelade mit der Fliege ein. Worauf ihm das Éclair gleich noch besser schmeckte. Ob er sich noch eine vierte Hasenpfote einverleiben konnte, ohne dass sich eine kameralistische Diskussion daraus entwickelte? Tron beugte sich über den Tisch des Speisezimmers und warf einen diskreten Blick auf die Principessa. Wurde er bereits beobachtet?
Nein – die Principessa war in Gedanken versunken. Sie starrte auf das Zigarettenetui in
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