Die Matlock-Affäre
den Lichtkegel hin und zurück, strengte seine Augen an und fragte sich jede Sekunde aufs neue, ob er diese spezielle Stelle schon überprüft hatte oder nicht - alles sah so ähnlich aus.
Die Wahrscheinlichkeit des Mißerfolgs wuchs. Er konnte umkehren und von neuem beginnen, dachte er. Vielleicht galt die Ziffer 30 einer anderen Maßgröße. Meter vielleicht oder das Vielfache einer anderen Zahl, die irgendwo in dem Diagramm verborgen war. Die Punkte? Hätte er die Punkte unten und oben an dem Rechteck zählen sollen? Warum waren die Punkte da?
Er hatte eine Strecke von sechs Fuß, eher etwas mehr, abgesucht.
Nichts.
Sein Geist wanderte zu den Punkten zurück, und er holte das Foto aus der Innentasche. Als er sich aufrichtete, um die Muskeln am Rückgratansatz zu lockern - das dauernde Kauern hatte weh getan -, stieß er mit dem Fuß gegen eine harte Fläche. Zuerst dachte er, es wäre ein heruntergefallener Ast oder vielleicht ein Felsbrocken.
Dann wußte er, daß es keines von beiden war.
Er konnte es nicht sehen - was auch immer es sein mochte, es war von dichtem Unkraut überwuchert. Aber er konnte die Umrisse des Gegenstandes mit dem Fuß ertasten. Er war gerade, präzise gearbeitet. Er gehörte nicht zum Wald.
Er hielt die Taschenlampe über das Unkraut und sah, daß es sich nicht um Unkraut handelte. Das war irgendeine kleinknospige Blüte. Eine Blume, die keine Sonne und auch nicht viel Platz brauchte.
Eine Dschungelblume. Deplaziert, gekauft, verpflanzt.
Er schob die Blumen weg und beugte sich vor. Darunter war ein dickes, lackiertes Holzbrett, das etwas zwei Fuß breit und etwa eineinhalb Fuß lang war. Es war ein oder zwei Zoll in den Boden eingesunken, die Oberfläche war so oft geglättet und überlackiert worden, daß die einzelnen Lackschichten fast auf Hochglanz gekommen waren und das Licht der Taschenlampe wie Glas reflektierten.
Matlock grub die Finger in die Erde und hob das Brett auf. Darunter war jetzt eine verwitterte Metalltafel, vielleicht aus Bronze, zu erkennen.
Für Major Lucas N. Herron, USMCR In Dankbarkeit von den Offizieren und Soldaten der Bravo Kompanie, Vierzehntes Angriffsbataillon, Erste Marine-Infanterie-Division Salomoninseln - Südpazifik Mai 1943
Matlock hatte das Gefühl, auf einen Grabstein zu blicken.
Er schob die Erde weg, die die Tafel umgab, und grub einen winzigen Graben um das Metall. Auf Händen und Knien hob er vorsichtig und etwas unsicher die Platte hoch und legte sie zur Seite.
Er hatte es gefunden.
In der Erde war ein Metallbehälter vergraben - die Art, wie man sie in Bibliotheksarchiven für wertvolle Manuskripte benutzt. Luftdicht, wettersicher, unter Vakuum stehend, für die Ewigkeit gebaut.
Ein Sarg, dachte Matlock.
Er hob den Behälter auf und schob die kalten, feuchten Finger unter den Hebel. Er mußte beträchtliche Kraft einsetzen, um ihn in die Höhe zu ziehen, aber schließlich gelang es ihm. Ein leises Zischen war zu hören, so, wie man es hört, wenn man eine Dose Instant-Kaffee öffnet. Die Gummilippen lösten sich voneinander. Im Inneren des Behälters konnte Matlock ein Öltuchpaket in Form eines Notizbuches erkennen.
Er wußte, daß er die Anklage gefunden hatte.
30
Das Notizbuch war dick, mehr als dreihundert Seiten, und jedes Wort war mit Tinte geschrieben. Es hatte die Form eines Tagebuches, aber die umfangreichen Eintragungen unterschieden sich erheblich. Hinsichtlich der Daten gab es keinerlei Gleichmäßigkeit. Häufig folgten die Tage einander; dann lagen wieder Wochen, ja Monate zwischen den Eintragungen. Auch die Art, wie das Buch geführt wurde, war unterschiedlich. Es gab Strecken mit klarer, erzählender Darstellung, denen dann wieder zusammenhanglose ausführende Überlegungen folgten. In den letztgenannten Abschnitten hatte die Hand gezittert, waren die Worte oft unlesbar.
Lucas Herrons Tagebuch war ein Schrei der Angst, ein Ausschütten des Schmerzes. Die Beichte eines Mannes bar jeder Hoffnung.
Während Matlock auf dem kalten, feuchten Boden saß, von Herrons Worten förmlich hypnotisiert, begriff er die Motive, die hinter Herrons Nest standen, die abweisende grüne Mauer, die verdunkelten Fenster, die völlige Isolierung.
Lucas Herron war ein Vierteljahrhundert lang drogensüchtig gewesen. Ohne die Drogen war sein Schmerz unerträglich. Und niemand konnte etwas für ihn tun, abgesehen davon, daß man ihn für den Rest seines unnatürlichen Lebens in ein Veteranenhospital einwies.
Lucas Herron hatte diesen
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