Die Maya-Midgard-Mission
entschuldigen Sie mich. Ich muss mich stärken. – Ina! Ina Coolbright! Wo bist du, meine Taube? Es muss nicht dein Herzblut sein, das du für mich vergießt. Mit einem weiteren Tröpfchen dieses vollmundigen Rebenbluts würde ich mich schon begnügen."
Ambrose Bierce trat an die grün tapezierte Wand zurück und sah zu, wie die schnatternde Menge um Mark Twain herum in Richtung des Ausschanks entschwand. Der Salon der Dichterin Coolbright bot mehr als den baren geistigen Genuss. Er hatte gefragt und An twort erhalten. Warum er sich hier als Bettler aufführte, warum er, als sei er ein unbeschriebenes Blatt, ein literarischer Habenichts, um die kleinste kursierende Münze – den Rat – gebettelt, mit einem Ernst um etwas gebeten hatte, der der Annahme, dass es nicht gewährt werden würde proportional war, das wusste er nicht. "Selbstachtung ist: eine falsche Einschätzung", dachte er. "Und ein Zyniker ist ein Lump, der die Dinge sieht, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten."
" Hatten Sie sich ernsthaften Rat vom guten Sam Clemens erhofft?", fragte ein Gentleman im Sonntagsstaat, der in einem Sessel hinter einem Photoapparat vor der grünen Wand saß und die rückwärtige Mechanik des Gerätes studierte. "Dieser Hans-Dampf-in-allen-Gassen weiß trotz seiner Jahre noch nicht, was es bedeutet, hungrig auf der Suche nach Wahrheit zu sein. Eines Tages wird er wissbegieriger sein. Glauben Sie mir."
Der Fremde machte Ambrose Bierce neugierig. Seine mitfühlenden Worte zeugten von Sachverstand oder geteiltem Leid, seine noble Kleidung von vermögender und seine klare Sprache von gebildeter Herkunft. Alles in allem war er eine angenehme Erscheinung. Vie lleicht würde ein Gespräch mit ihm die Enttäuschung über Twain lindern helfen. "Sind Sie auch auf der Suche?"
" Sind wir das nicht alle, Mister Bierce? Ja, ich suche auch. Allerdings nicht nach den Weihen des literarischen Olymps. Ich versuche weniger Bücher zu schreiben; ich versuche, einige ganz bestimmte zu finden."
" Was müssen das für besondere Exemplare sein..."
" Haben Sie schon einmal von den Büchern der Sechsten Sonne gehört?"
" Nein", sagte Bierce. "Noch nie."
Der Mann erhob sich von seinem Sessel und kam um den Photoapp arat herum auf Bierce zu. "Wissen Sie, wo die Inseln Aurora zu finden sind?"
" Nun, bei der Armee war ich Landvermesser. Aber Aurora..." Bierce war ein wenig verwirrt. Jetzt, da er den Fremden in ganzer Gestalt sah, glaubte er, einen schwachen Lichtschimmer um ihn herum wahrzunehmen, ähnlich einem Heiligenschein. "Ja, ehm, nun, Aurora: die Morgenröte? An der Ostküste vielleicht..."
" Aurora ist eine Insel der Kleinen Antillen. Die Legende behauptet, hier lägen die Bücher der Maya-Indianer vergraben, die das Geheimnis unserer Herkunft dem Dunkel entreißen wollten. Woher kommen die Menschen? Warum sind sie hier?"
Ambrose Gwinet Bierce zuckte die Achseln. "Und wohin werden sie gehen? Das gute Dunkel, ja, wissen Sie, dieses Dunkel, das Geheimnis des Todes, unseres eigenen Hinscheidens, das würde mich mehr interessieren. Irgendwie scheint es mir die andere Seite der gleichen Medaille zu sein. "
Der Photograf nickte. "Darf ich ein Photo von Ihnen machen, Mister Bierce? – Gut! Bitte setzen Sie sich hier hin. So ist recht, danke."
Nach kurzer Zeit hielt der Photograf dem ambitionierten Schriftsteller eine Platte unter die Nase. Bierce konnte sich gar nicht daran erinnern, dass ein Blitz aufgeflammt war. Es roch auch nicht nach verbranntem Magnesium. Doch der Fremde lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung.
"Sehen Sie her, Mister Bierce. Das sind Sie: ein gutaussehender, vitaler Mensch, mit blitzblauen Augen, einem energischen Kinn, einem blonden Lockenschopf, hochfliegenden Plänen; ein junger Mann, der sich lieber mit dem Tod als dem Leben beschäftigt. Die Bücher der Sechsten Sonne werden Ihnen beides erklären. Denken Sie an meine Worte. Eines Tages sind Sie alt, Sie spüren den Tod nahen – 'das gute Dunkel', wie Sie sagten –, und Sie staunen wie Ihr Interesse auf einmal dem Licht gilt und nicht mehr dem Dunkel. Denken Sie an meine Worte, und denken Sie auch an das Licht der Sechsten Sonne. Auf Aurora."
Ambrose Gwinet Bierce wusste nicht, ob der schwere Wein, die st ickige Luft im Salon, der fehlende Blitz und die bedeutsame Rede des Photographen oder nur ein plötzlicher Asthmaanfall ihn schwindelig machte. Ermattet ließ er sich auf den Sessel sinken. Weiche Polster umgaben ihn. Weich und warm.
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