Die Maya-Midgard-Mission
sie ihrem Laster frönen."
Schmunzelnd erinnerte sich Huxley an seine Einleitung zu der Vorl esung über 'Die Menschliche Situation'. Hätte er geahnt, dass Mrs. Monroe-Miller an seinen Lippen hing, er hätte vielleicht etwas milder formuliert. Nein, nicht in Wirklichkeit. Dennoch lag wahrscheinlich in der Unumwundenheit seines Vortrags, in der ungeschminkten Härte seiner Worte der Grund für seine Mühe und Geduld, einem Menschen, der um Einsichten rang, hilfreich unter die Arme zu greifen. Er konnte ihr nicht in wenigen Sätzen mitteilen, wofür er ein Leben gebraucht hatte. Aber er würde ihr ein Startsignal geben, ein wenig Pulver für eine Initialzündung, eine harmlose Messerspitze mentalen Meskalins zur Bewusstseinserweiterung. Seine Absichten waren rein, völlig uneitel und bar jedes Zynismus'. Er hatte sich entschieden, eine Wissenshungrige mit einem Happen zu beköstigen, ohne Garantie für die Bekömmlichkeit der Kost zu übernehmen. Sattwerden musste sie überdies woanders und würde es nur aus eigener Kraft.
" Dass diese Insel Sie fasziniert, kann ich verstehen. Ich habe sie deshalb in meinem neuen Roman beschrieben, der nächstes Jahr erscheint. 'Eiland' wird er heißen, und er beschreibt einen Zustand, in dem Körper und Geist, Endlichkeit und Transzendenz versöhnt sind."
" Wie erreicht man diesen Zustand?", fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung so leise, dass sie beinahe von den Nebengeräuschen übertönt wurde.
" Mit Liebe, Arbeit und Wissen im Hier und Jetzt", erwiderte Huxley und fügte erläuternd hinzu: "Denke, rede und tue rein. Sei besonnen, aber nicht begierig. Löse dich von deiner Vergangenheit wie von der Zukunft. Lebe im Brennpunkt des Hier und Jetzt. Befreie dich von deinen Gewohnheiten, Vorurteilen, Ängsten. Werde ein Wesen unter Wesen. Leide, lebe und liebe mit aller Kreatur." Durch die Leitung konnte Huxley den schweren Atem seiner Zuhörerin vernehmen. "Dies ist keine Religion, Mrs. Miller, auch keine Wissenschaft und erst recht keine Ideologie. Ich will kein Vorturner sein, sondern einen möglichen Weg zeigen. Gehen muss ihn ein jeder für sich allein. Vielleicht gibt es andere Wege, nach Pala zu gelangen. Doch Pala ist der Ort, an dem sich westliche Wissenschaft und östliche Religion zu einer Wiege der Weisheit verbinden."
" Wo liegt diese Insel, wie komme ich dorthin?", flüsterte die Stimme der Schauspielerin.
" Pala ist eine Fiktion, meine Liebe, und eine Essenz meines Lebens. Ja, man könnte sagen, dass dieses Eiland gewissermaßen aus den Tiefen meines Geistes aufgetaucht ist. Und dazu hat es eine ganze Lebensspanne benötigt. Wissen Sie, meine Hauptbeschäftigung war und ist immer der Versuch, so etwas wie ein Gesamtverständnis der Welt zu erreichen. Pala ist das Ergebnis dieses Versuchs, der gegenwärtige Stand meines Irrtums und meiner Wahrheit, wie ich sie sehe. Eine Synthese, die dennoch scheitern muss, wenn es uns nicht gelingt, den letzten Schritt zu tun. Was fehlt..."
Marilyn Monroe lauschte den Ausführungen des 'Weisen', wie ihr Mann den klugen Engländer genannt hatte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn zu verstehen. Sie wollte wie er die ganze Welt verstehen. Sie wollte wissen, endlich wissen, wer sie war, wie sie war, warum sie war, woher sie kam, wohin sie ging. Sie wollte wissen, was alle Menschen wissen wollen und wissen könnten, wenn sie nur wollten. Was sie wusste, war allein, dass nur ein Gesamtverständnis der Welt ihr die Angst vor ihr und den Menschen, die sie bevölkerten, nehmen könne. Sie ahnte, dass nur das Verstehen ihr Leben retten würde. Nur das Verstehen. Und sie lauschte der Stimme des alten Mannes, einer Stimme von sanftestem Klang, erhaben über Hass, Neid, Gewalt und Vorurteil, doch nicht ohne Leidenschaft. Dies war ein Mann, in dem Wissen nie die Unschuld zerstört hatte. Doch in ihr schmerzte der Verlust jener Unschuld, und jeden Tag zerbrach ein weiteres Stückchen ihres Wesens, und sie glaubte und hoffte und flehte, dass Wissen dies zerbrochene Mosaik ihrer Seele flicken würde. Trotz dieses Gegensatzes schien Huxley in gewisser Weise ein Mensch wie sie zu sein: Ein Künstler, der die sinnentleerten Einstellungen und nichtssagenden Einzelbilder zu einem lebendigen Gesamtbild, zu einem bunten Film zusammenfügte. In ihrem Geist tat sie genau das. An jedem Drehtag. Sie spielte Einstellungen und Szenen, aber der fertige Film ging ihr nie aus dem Kopf. Vor ihrem inneren Auge war er stets als Ganzes präsent.
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