Die Maya-Midgard-Mission
wirken. Für sie schien Hautkontakt ein Teil ihrer Ausdrucksweise zu sein, so wie die Stimmlage, Tonhöhe, Lautstärke oder eine bestimmte Gebärde Form des Verständigens sein konnte. Flavia verstand Baldinis Begeisterung. Sie selbst fühlte sich euphorisch.
Vergnügt beobachtete sie die vergeblichen Bemühungen eines jungen Vaters draußen auf dem Dor fplatz, seinen beiden Söhnen, die dem Krabbelalter noch nicht lange entwachsen sein konnten, beizubringen, wie man einen Holzstoß schichten muß, um ein halbwegs funktionierendes Herdfeuer hinzukriegen. Die Jungs mit ihren blauschwarzen Haaren und der kakaobraunen Haut hüpften nackt und springlebendig wie kleine Känguruhs um ihren Vater herum, der barfuß in Jeans und T-Shirt und trotz der kühlen Witterung als Folge des Großen Sturms schon leicht schwitzte. Geduld schien auch für einen Kamkinvater eine schwere Übung zu sein. Die Jungs stießen die Scheite immer wieder um und krähten vor Vergnügen, wenn ihr Vater eine übertrieben schreckliche Grimasse schnitt und mit seiner Arbeit von vorne begann. Sie schienen das Spiel für eine Art von Mikado zu halten, holten die kleinen Späne immer wieder von unten weg, um sie auf die großen zu werfen, probierten, die unterste Schicht der größeren Scheite so hervorzuziehen, dass die oberen liegen blieben, scheiterten in ihren Versu-chen, aber gaben nie auf und lernten so spielerisch, dass die Holzschichtung für ein Herdfeuer, dass längere Zeit ohne allzu hoch schlagende Flammen und ohne starke Rauchentwicklung brennen soll, besonders wichtig ist. Der Vater bewies dann doch Geduld, spielte mit und zeigte seinen Söhnen, dass Ausdauer von Erfolg belohnt wird. Er half den Jungen, und die quittierten ihr Erfolgserlebnis mit einem schrillen Jubelgeheul.
Flavia staunte, wie sehr sie sich an dem fröhl ichen Treiben der drei erfreuen konnte. Doch dann erinnerte sie sich, was ihr auf dem Vierwochentörn mit Baldini am meisten zu schaffen gemacht hatte: Es war das eintönige Rauschen der See, der bestetige Gleichklang aller Töne gewesen. Ob Möwengeschrei, das Knarren einer Spiere oder der Ankerwinde, das Spiel des Windes in den Segeln und sogar der Hall ihrer eigenen Liebeslaute, alles wurde vom Rauschen der einen herrschenden Gewalt vereinnahmt. Verschluckt. Der Große Sturm und der ihm folgende Regen waren nur eine Fortsetzung dieser Folter mit anderen Mitteln gewesen, ein Bruder des Meerrauschens. Helle Kinderstimmen und die heiteren Juchzer unbeschwerten Spiels wirkten auf Flavia wie bunte Farben nach langer Dunkelheit.
"Líncia?" fragte sie eine alte Frau, die nicht weit von ihr an einem Holzpfeiler lehnte und Nüsse kaute. "Kocht ihr nur über offenem Feuer auf Grand Karaiba? Ich meine, habt ihr keine Elektrizität? Für einen Herd oder einen Küh lschrank, zum Beispiel."
Die alte Frau hörte nicht auf zu kauen, aber der Schatten eines L ächelns huschte über ihr gefurchtes Gesicht. "E-Mail, Waschmaschine, Fernseher. Wir kennen das alles, aber wir brauchen es nicht", sagte sie und schränkte nach erneutem heftigem Kauen ein: "Nicht immer, aber immer seltener."
Flavia lachte über die verschmitzte Antwort, die so typisch für die Kamkin zu sein schien und genoß das Gefühl, Eindr ücke zu sammeln wie eine Lehramtsstudentin zu Beginn ihres Referendariats. Grand Karaiba wirkte wie ein Tonikum auf ihr Gemüt. Und die Medizin, die diese Menschen für ihre Gäste bereithielten, war ihre Menschlichkeit. "Das vorbildhafte Zusammenleben einer Inselgesellschaft und die therapeutische Wirkung einer Integration – Ein karibischer Mikrokosmos für Kranke und Gesunde." Ein Buch von Professor Flavia di Fulminosa. Trinidad war tot, es lebe Grand Karaiba! Ihre Habilitation nahm endlich Züge an.
Dabei war der Stamm der Ka mkin beileibe keine folkloristische Touristentruppe, kein Vorführobjekt, keine von Ethno-, Anthropo- und anderen -logen oder Wissenschaftlern verhätschelte – und damit zum Tode verurteilte – steinzeitliche Studiergesellschaft. Im Gegenteil: Mehrere Mitglieder der Dorfgemeinschaft, wie zum Beispiel die Medizinfrau, Bekka, oder der Häuptling, Palika, hatten in einer westlichen Großstadt studiert. Grand Karaiba war aber auch nicht einfach ein weiteres futurologisches Dorfmodell, mit den idealen Verschmelzungen zweier Zivilisationen oder anderen Zutaten aus der sozialutopischen Klischeeküche. Diese Menschen hier lebten auf eine naturnahe, einfache Weise, ohne auf mancherlei Annehmlichkeiten
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